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Strafrecht

Ein Richter und ein vielfach Vorbestrafter berichten über ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht

Ravensburg / Lesedauer: 6 min

Ein Richter und ein vielfach Vorbestrafter berichten über ihre Erfahrungen mit dem Strafrecht
Veröffentlicht:26.06.2013, 12:50

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Hätte Rainer R. den Großteil seines Lebens im südlichsten Baden-Württemberg verbracht, so wäre die Wahrscheinlichkeit groß gewesen, dass er Axel Müller schon früher begegnet wäre. Der 37-jährige R., dessen richtiger Name hier nichts zur Sache tut, hätte den 49-jährigen Müller als einen Mann in schwarzer Robe kennengelernt, welcher ihm zum Schluss etlicher Begegnungen jeweils etwas gesagt hätte, das mit den Worten beginnt: "Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil ..." Axel Müller ist Strafrichter, Rainer R. war – salopp formuliert - ein Dauerkunde von Strafrichtern.

"Ich bin so 40mal vorbestraft, sagt der groß gewachsene Mann mit dem glatt rasierten Schädel, den großflächigen Tätowierungen und den zwei silbernen Ohrringen. Er sieht exakt so aus, wie man sich einen Hooligan vorstellt. "Ich bin ein Ex-Hooligan", sagt R. Und: „Ich bin seit zwei Jahren trockener Alkoholiker.“ Und: "Ich war viermal im Knast, zusammen vier Jahre." Und: "Alles Gewaltdelikte. Wenn ich betrunken war, habe ich weder Freund noch Feind gekannt." Seit gut einem Jahr ist er in Freiheit – auf Bewährung. Er wohnt in Weingarten (Kreis Ravensburg) in einem Zimmer des Bewährungshilfevereins. Zurzeit sucht er Arbeit. Rainer R. ist Maurer. Die Frage, ob es gerecht sei, was der Staat mit ihm, dem Dauerkriminellen gemacht habe, kann oder will er nicht mit einem klaren Ja oder einem klaren Nein beantworten. Aber er wird später noch einige Sätze über sein Verständnis von Gerechtigkeit sagen. In Weingarten haben sich die Wege des Strafrichters Müller und des Ex-Knackis R. übrigens doch noch gekreuzt.

Axel Müller ist seit 21 Jahren im Justizdienst des Landes Baden-Württemberg . Er war Staatsanwalt, Amtsrichter, Beisitzer einer Schwurgerichtskammer am Landgericht Ravensburg, und jetzt ist er stellvertretender Leiter des Amtsgerichts Tettnang. Ein freundlicher Mann, groß gewachsen wie L., allerdings mit weniger Muskelkilos ausgestattet, kurze schwarze Haare, dunkel umrandete Brille. Er sieht aus, wie man sich einen Juristen vorzustellen hat. Empfindet er seine Tätigkeit als Beitrag zur Gerechtigkeit? Müller drückt sich vorsichtig aus: "Das Strafrecht kann das Zusammenleben in einer Gesellschaft mit absichern", sagt er. Und: "Das Strafrecht kann die Werte, die sich eine Gesellschaft gibt, mit absichern." Aber dann folgt sofort eine Einschränkung: "Eine gewisse Verteilungsgerechtigkeit, Chancengleichheit muss gegeben sein, sonst verkommt das Strafrecht zur Knute." Und von dem berühmt-berüchtigten Satz des Nazirichters und ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger: "Was früher Recht war, kann heute nicht Unrecht sein", hält er gar nichts. "Das ist falsch." Der sogenannte Rechtspositivismus habe seine Grenzen. Wer, wie Filbinger, einen Deserteur zum Tod verurteile, spreche immer ein Fehlurteil. Und die Todesstrafe sei sowieso "ein furchtbarer Irrtum".

Permanentes Spannungsverhältnis

Konkret sieht Axel Müller seine Arbeit in einem permanenten Spannungsverhältnis: Er muss versuchen, dem Täter gerecht zu werden, aber auch dem Opfer. Zu 100 Prozent gelinge das so gut wie nie. Für ihn persönlich sei es "sehr wichtig", seine Urteile mit gutem Gewissen zu sprechen. Und dennoch: Bisweilen bleibt auch ihm ein ungutes Gefühl. Da ist der Fall eines Sextäters, dessen Vergehen erst nach Jahren angezeigt wurde. Das Opfer sei zutiefst traumatisiert gewesen. Die Verurteilung ihres Peinigers zu mehreren Jahren Gefängnis habe der Frau "nicht viel gegeben". Aber: Der Mann hatte sich in den Jahren zwischen der Tat und ihrer Ahndung gefangen und sich eine bürgerliche Existenz aufgebaut. "Die wurde mit dem Urteil vernichtet", sagt Müller, "und das kann nicht zufriedenstellend sein." Man könnte auch sagen: Ein strafrechtlich korrektes Urteil kann im Einzelfall ungerecht anmutende Nebenwirkungen haben.

Sind ihm auch schon Fehlurteile unterlaufen? Die Antwort kommt überraschend spontan: "Ja, das glaube ich schon." Er sei "mit Sicherheit auch Fehleinschätzungen von Zeugen aufgesessen". Mit diesem Eingeständnis gehört Axel Müller zu einer Minderheit seiner Kollegen. Vor wenigen Wochen ist ein sehr lesenswertes Buch des Journalisten und Juristen Thomas Darnstädt auf den Markt gekommen ("Der Richter und sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt." Piper Verlag, 19,99 Euro). Der Autor listet erwiesene Fehlurteile auf, er schildert mehr als fragwürdige Justizpraktiken, und er hadert "mit der Selbstgewissheit der Richter bei der Wahrheitssuche". 76 Prozent aller Richterinnen und Richter, so Darnstädt, zweifeln selten oder nie an der "Weisheit" ihrer Urteile. Fazit: "Unfehlbarkeit gehört zum Selbstbild des Richters."

Nie wieder ins Gefängnis

Rainer R. will das nicht bewerten. Wenn er auf sein bisheriges Leben zurückschaut, sagt er zunächst einmal: "Es ist großer Mist, den ich da gebaut habe." Vor wenigen Wochen war er nach langer Zeit wieder bei einem Fußballspiel des VfB Stuttgart. "Zum ersten Mal habe ich das ganze Spiel mitgekriegt, weil ich nüchtern war." Sein 16-jähriger Sohn hat ihn mehrmals im Knast besucht, "und da hat es klick gemacht". Er will nie wieder ins Gefängnis. Er hadert nicht generell mit der Gerechtigkeit, aber viele Details stoßen ihm noch immer sauer auf. L. erinnert sich an die junge Staatsanwältin, "frisch von der Uni", die nur sein langes Vorstrafenregister im Blick gehabt und quasi reflexartig eine Haft ohne Bewährung gefordert habe. Er beklagt, dass Konsumenten illegaler Drogen gegenüber Alkoholkranken einen Bonus hätten und schneller eine Therapie bekämen. Er hadert noch immer mit den Zuständen im Knast, wo es deutsche Gefangene sehr schwer hätten, sich in der Hierarchie gegenüber "den Ausländern" zu behaupten. Rainer L. findet es ungerecht, dass in Bayern und in Baden-Württemberg die Urteile generell härter ausfielen als in anderen Bundesländern. Er ärgert sich, dass allein sein Äußeres potenzielle Arbeitgeber abschrecke. Und auch andere Nachwirkungen seines Vorlebens empfindet er als belastend. "Wenn ich mit dem Zug wegfahren will, werde ich spätestens am Bahnhof überprüft. Und dann hat der Polizist immer ganz schnell die Hand an der Waffe." Gewisse Zweifel hat er auch am Sinn von Gefängnisstrafen - vor allem für junge Straftäter: "Da geht ein 22-Jähriger für vier Wochen in den Jugendknast und kommt dann als Groß-King wieder raus." Er spricht von einem Fall, den er kennt.

"Ich bin bei den Jugendlichen im Bodenseekreis als harter Hund bekannt", sagt der Richter Axel Müller zu dem Thema. Erstmals habe er vor kurzem einen Warnschussarrest verhängt: "Das ist ein gutes Instrument für die Sensibleren." Er ist überzeugt davon, dass Abschreckung generell funktioniere. Aber Müller ist eben auch geprägt von seinem christlichen Menschenbild: "Man muss verzeihen, man muss auch wieder die Hand reichen können." Und deshalb engagiert er sich seit vier Jahren als Vorsitzender des Bewährungshilfevereins in Weingarten. Und da begegnen sich bisweilen der Ex- Knacki Rainer L. und der Richter Axel Müller.