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Bahnstadt

Die Wohnung mit Körperwärme heizen

Heidelberg / Lesedauer: 7 min

In Heidelberg entsteht die größte Passivhaus-Siedlung der Welt. Dank Niedrigenergie-Bauweise und Holzheizkraftwerk wird die „Bahnstadt“ zum Null-Emissions-Viertel für fast 7000 Menschen.
Veröffentlicht:28.09.2018, 15:31

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Wer am Heidelberger Hauptbahnhof ankommt, ist schneller in der Zukunft als im Gestern. Zur Altstadt sind es zwei SBahn-Stationen. Zur Bahnstadt, dem jüngsten Stadtteil Heidelbergs, kann man direkt von der Überführung des Bahnhofs herabsteigen. Hier, wo bis 1997 die Güterzüge rangierten, entstehen Gebäude, die es in dieser Form, in dieser Zahl kein zweites Mal gibt.

Zu den ersten, die im Spätsommer 2012 in die Bahnstadt zogen, Baufeld Schwetzinger Terrassen, Einheit C2.3, gehören Susanne und Volker Schmidt , ein Pädagogenpaar – sie Mitte 30, Grundschullehrerin, er Anfang 40, Deutsch und Geschichte am Gymnasium. Mit ihren vier Kindern, dazu Golden-Retriever-Hündin Kyra, wohnen sie auf 140 Quadratmetern, Erdgeschoss und erster Stock, eine Maisonette-Wohnung. „Wir haben in jedem Raum eine Heizung hängen“, sagt Vater Volker. „Aber die brauchen wir quasi nicht. Letztes Jahr haben wir vielleicht an zwei Tagen geheizt.“

Durchdacht durchlüftet

Die Erklärung, die seine Frau dafür liefert, klingt fast esoterisch: „Unsere Körper wärmen die Wohnung. Dazu die Sonne. Oder wenn wir mal eine Kerze anzünden.“ Ist aber keine Esoterik, ist Physik. Die Schmidts wohnen in einem Passivhaus, so gut gedämmt, so durchdacht durchlüftet, dass tatsächlich fast keine Heizenergie mehr nötig ist. „Selbst im Winter“, sagt Volker, „fällt die Temperatur kaum einmal unter 20 Grad.“

Möglich wird das, weil ein Passivhaus Wärmeverluste vermeidet, so gut es geht. Knapp 30 Zentimeter dick sind die Außenwände gedämmt, noch mehr ist es an den Dächern. Die Fenster sind dreifach verglast; im Vergleich zu einer 1990 gängigen Verglasung geben sie nur noch ein Viertel der Wohnungswärme ab. Die Fensterrahmen – die bei heutigen Neubauten zu den größten Wärmebrücken zählen – fallen so schmal wie möglich aus.

Andererseits werden Wärmequellen effektiver genutzt. Sonneneinstrahlung, Körperwärme, Hitzeabstrahlung von Haushaltsgeräten – und, ja, von Kerzen: Alles wird in ein Wärmerückgewinnungssystem eingespeist, das etwa 80 Prozent der Abluftwärme recycelt, um damit die Frischluft aufzuheizen. 20 Grad warme Abluft wärmt also im Winter null Grad kalte Frischluft bereits auf 16 Grad Celsius vor, ehe die Heizung überhaupt in Aktion treten muss. In allen Räumen der Schmidt’schen Wohnung gibt es Düsen, die Frischluft verteilen. Und Absauger, die Altluft entziehen. Mit zwei Ausnahmen, erklärt Susanne Schmidt : „In Zimmern, wo wir schlafen, wird nur Luft zugegeben, in den Bädern nur abgesaugt.“ Im Keller: Wärmetauscher und Filteranlage. Draußen, hinter der Terrasse im Innenhof, glänzen metallisch zwei Säulen. Eingang und Ausgang der Luft.

Investition in die Zukunft

Die komplette Bahnstadt wird in extremer Energiesparbauweise errichtet. Auf 116 Hektar, einer Fläche so groß wie 200 Fußballfelder. Es ist die größte Passivhaus-Siedlung der Welt. Bis 2022 soll sie fertiggestellt sein. Rund 7000 Menschen werden dann hier leben, so der Plan, knapp fünf Prozent der derzeit 150 000 Einwohner Heidelbergs. Fast noch einmal so viele sollen zum Arbeiten hierherkommen. Dann dürften, so die offizielle Schätzung, rund zwei Milliarden Euro verbaut worden sein.

Es ist eine Investition in die Zukunft. Denn die Städte von morgen werden weit weniger Energie verbrauchen müssen als die Städte von gestern und heute. Das Klimaziel für 2050 lautet: minus 80 bis 95 Prozent Treibhausgase im Vergleich zu 1990. Zwar wurde in Deutschland im ersten Halbjahr 2018 erstmals mehr Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt als aus Kohle, das ist die gute Nachricht. Doch zu einer erfolgreichen Energiewende gehören neben der Strom- auch eine Verkehrs- und eine Gebäudewärmewende. Hier aber sind die Zahlen weniger sonnig. Beim Verkehr steigen die Emissionen sogar. „Dahinter steht eine politische Haltung“ sagt Barbara Metz, stellvertretende Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Umwelthilfe. „Bei der Stromerzeugung gibt es die, und deshalb ist der Anteil der Erneuerbaren am Strommix in den vergangenen Jahren stark gestiegen.“ Beim Gebäudebereich fehle diese klare politische Linie, vom Verkehrssektor gar nicht zu reden. Dabei entfalle gut ein Drittel des deutschen Endenergieverbrauchs auf den Gebäudesektor, so Metz – mehr als auf den Verkehr (29 Prozent) und den Strom (28 Prozent). „Deutschland hatte beim Klima-schutz mal eine Vorbildfunktion. Das ist definitiv vorbei.“

Energiegenügsames Musterstädtle

Im Gebäudebereich sind Passivhäuser eine vorbildliche Antwort auf die Herausforderungen der Energiewende. Sie kommen mit maximal 15 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr fürs Heizen aus (was etwa 1,5 Litern Heizöl oder 1,5 Kubikmetern Gas entspricht). Das sind rund zwei Drittel weniger als bei einem herkömmlichen Neubau. Und nur fünf bis zehn Prozent dessen, was ein Gebäude aus den 1970er-Jahren an Heizenergie benötigt.

Heidelbergs jüngster Stadtteil ist ein energiegenügsames Musterstädtle – und nicht nur deshalb grün. In den Innenhöfen und zwischen den Häusern: Wiesen und Wasser. Viele der Flachdächer: begrünt. „Man kann schon sagen, dass die Bahnstadt eine Ökosiedlung ist“, sagt Volker Schmidt. Aber andere Aspekte waren den Schmidts mindestens ebenso wichtig: wenig Autoverkehr. Spielplätze. Eine lebhafte Nachbarschaft. „Der soziale Faktor“, sagt Schmidt.

Die Bahnstadt ist menschenfreundlicher als die gängigen Stadtlandschaften mit ihren baumlos-betongrauen Fahrbahnschneisen und den blechbewehrten Randstreifen. Hier herrscht Autoarmut, zumindest oberflächlich. Ein Großteil der Pkws wurde unter die Erde verbannt, in Tiefgaragen – auch die Familienkutsche der Schmidts, ein VW-Bus mit Platz für sechs Passagiere plus Hund. Dafür gibt es 3,5 Kilometer Radwege. Es ist kein Zufall, dass eine solche Ökosiedlung in Heidelberg Wirklichkeit wird. Das wird einem klar, wenn man das „Prinz Carl“ im Herzen der Altstadt besucht. Hier, im zweiten Stock, hat Ralf Bermich sein Büro, Abteilungsleiter Klimaschutz und Energie beim Umweltamt. Bermich, Diplomphysiker, randlose Brille, Diplomphysikerbart, hat vor 25 Jahren bei der Stadtverwaltung angefangen. Kurz nachdem Heidelberg ein Klimaschutzkonzept beschlossen hatte, 1992 war das. „Damals hat die erste Weltklimakonferenz in Rio stattgefunden“, erinnert sich Bermich. „Heidelberg startete eine Kampagne mit dem Motto: ,Rio verhandelt, Heidelberg handelt.’“ Etwas großspurig sei das schon gewesen, so Bermich.

Klimaschutz: Heidelberg handelt

Aber: Heidelberg hat gehandelt. Der Energieverbrauch der städtischen Gebäude wurde seitdem um mehr als 50 Prozent reduziert. Und schon fast die Hälfte aller Heidelberger Häuser wird heute energieeffizient durch Fernwärme aus Kraft-Wärme-Kopplung beheizt. 2014 hat die Stadt einen Masterplan beschlossen, mit dem sie bis 2050 klimaneutral werden will. „Hier in Heidelberg sind sehr, sehr viele Dinge Realität geworden“, sagt Bermich. Dazu zählt nun auch die Bahnstadt. Ein Holzheizkraftwerk, überwiegend mit Holzresten aus der Landschaftspflege betrieben, macht sie – „bilanziell“, wie Bermich betont – zum Null-Emissions-Stadtteil.

Richtig günstig allerdings ist all das nicht zu haben. Susanne und Volker Schmidt konnten sich die Bahnstadt schon 2012 nur leisten, weil ihre Eltern sie großzügig unterstützten. Rund 450 000 Euro kostete ihre Wohnung, etwa 3200 Euro pro Quadratmeter. Heute, sechs Jahre Immobilienboom später, wäre der Kauf für sie illusorisch.

Die Passivhaus-Bauweise trage zu den hohen Preisen wenig bei, darauf besteht Bermich. „Passivhäuser sind nicht viel teurer zu bauen, das liegt im Bereich drei bis acht Prozent.“ Über 30 Jahre gerechnet seien sie sogar billiger, da man viel Geld beim Heizen spare. Trotzdem hat Heidelberg für die Bahnstadt eine Art städtische E-Haus-Prämie ausgelobt: eine monatliche Mietkostenbeteiligung von bis zu vier Euro pro Quadratmeter – oder einen einmaligen Kaufzuschuss, je nach Zahl der Familienmitglieder.

Auch die Schmidts konnten sich bei ihrem Einzug über einen Eigenheimzuschuss der Stadt freuen: 15 000 Euro Familienprämie plus 1500 Euro für jedes Kind – damals waren es erst zwei. Das Fördergeld haben sie unter ihrem Zuhause vergraben. Die 18 000 Euro reichten passgenau für den Tiefgaragenstellplatz.