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„Der Genozid stellt eine Traumatisierung dar“

Baden-Württemberg / Lesedauer: 7 min

Der jesidische Psychologe Sefik Tagay über politische Uneinigkeit, eine Völkergemeinschaft vor der Zerreißprobe und ein Stück Hoffnung
Veröffentlicht:07.01.2018, 20:52

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Sefik Tagay kam einst aus der Türkei nach Deutschland, um hier in Sicherheit leben zu können. Als Professor für Psychologie gehörte er zu den Gründern der Gesellschaft Ezidischer Akademiker ( Gea ) in Essen. Mit Dirk Grupe sprach er über die Forderung nach einer Schutzzone für Jesiden und Aramäer im Nordirak, warum Deutschland für Jesiden eine große Bedeutung besitzt und welche Rolle Bildung plötzlich spielt. Für den Hintergrund: Die Gea hat bei ihrer Namensgebung auf die im deutschsprachigen Raum verbreitete Schreibweise Yeziden beziehungsweise Jesiden verzichtet und stattdessen die Schreibweise Eziden gewählt, weil diese sich an der kurdischen Selbstbezeichnung orientiert.

Herr Tagay, muss man sich aktuell Sorgen um die Jesiden im Nordirak machen?

Die politische Lage im Nordirak hat sich ja in den letzten sechs Monaten dramatisch verändert und ist deutlich instabiler als noch vor zwei Jahren. Die autonome Region Kurdistan musste sich von bestimmten Regionen zurückziehen, weil die irakische Regierung sie wieder ein Stück weit entmachtet hat. Erschwerend kommt hinzu, dass die Jesiden in verschiedene Lager gespalten sind. Es gibt prokurdische Lager, Barzani-Lager, Talabani-Lager, dann gibt es die PKK-Lager, jesidenspezifische Lager und irakische Lager. Wir haben jetzt viel mehr Spaltung.

Die Jesiden müssten also auch untereinander Einigkeit herstellen, um die Situation zu verbessern?

Richtig. Wo Spaltung ist, kann eine Gemeinschaft nicht wirklich etwas bewirken. Und wir hoffen nach wie vor, dass die Jesiden im Nordirak gemeinsam mit den assyrischen Christen, mit den Aramäern, die Weltgemeinschaft davon überzeugen können, dass sie eine gemeinsame Schutzzone bekommen. Das ist eine Forderung, die seit Beginn des Genozids im Raume steht. Aber wir wissen, dass das nicht so einfach ist. Die Internationale Gemeinschaft handelt ja auch nicht einheitlich.

Wie sicher sind denn die Menschen, etwa in Mossul?

Nach wie vor sind Minderheiten völlig ungeschützt. Der irakische Staat ist ja noch weit entfernt von Stabilität. Seit der Befreiung von Mossul gibt es aber auch wieder eine Bewegung, dass Christen zurückkommen. Mossul war ja jahrtausendelang eine Hochburg der assyrischen Christen. Aber auch da höre ich immer häufiger, der Nahe Osten wird entchristianisiert so wie er entjesidisiert wird. Es ist eine ganz zentrale Frage, ob die beiden jahrtausendealten religiösen Gemeinschaften überhaupt eine Zukunft im Nahen Osten haben.

Eine Rückkehr der Jesiden in ihre angestammten Gebiete, etwa ins Shingal-Gebirge, erscheint auf absehbare Zeit unwahrscheinlich. Bieten die Flüchtlingscamps den Betroffenen ausreichend Schutz?

Wir bekommen mit, dass wenn Jesiden und assyrische Christen mit Muslimen in den Camps zusammenkommen, es immer wieder Übergriffe gibt. Das ist ein ganz großes Problem, vor allem wenn sich stark fanatische Muslime unter den Flüchtlingen befinden. Deshalb sind wir froh, dass es auch Camps gibt, die überwiegend von Jesiden belegt sind, wie jene, die die „ Schwäbische Zeitung “ unterstützt. Wir sind für diese Projekte und Hilfen sehr dankbar.

Die „Schwäbische Zeitung“ versucht auch, etwa im Flüchtlingscamp Mam Rashan, Angebote zum Arbeiten zu schaffen. Dennoch bleibt der Mangel an Arbeit ein Problem, oder?

Arbeit ist etwas ganz Zentrales für den eigenen Selbstwert, für die Existenzsicherung. Sie müssen sich vorstellen, die Menschen sind seit Jahren in den Camps und haben überhaupt keine Arbeit, weil die Regierung vor Ort völlig überfordert ist. Die Beamten werden ja zum Teil monatelang überhaupt nicht bezahlt. Wie sollen dann die Flüchtlinge eine Arbeit finden?

In Interviews mit Camp-Flüchtlingen haben wir den Eindruck bekommen, dass ausgerechnet die von der Landwirtschaft geprägten Jesiden aus Shingal viel für die Bildung ihrer Kinder tun. Ist das richtig?

Ein ganz wichtiges Thema. Die Jesiden aus Shingal sind überwiegend bildungsfern. Das kann man im Allgemeinen sagen, wenn man sie vergleicht mit Jesiden aus Syrien oder aus Armenien, wo es viele Akademiker gibt. Die Region wurde von der Regierung über Jahrzehnte sträflich vernachlässigt, deshalb ist das Bildungsniveau recht gering. Aber jetzt beobachten wir etwas ganz anderes. Beispielsweise haben wir als Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen seit drei Jahren ein Patenschaftsprojekt, bei dem wir jesidische Studierende an der Universität Dohuk finanziell unterstützen. Und es gibt tolle Nachrichten darüber, dass jesidische Studierende, die tatsächlich in den Flüchtlingslagern leben, unter schwierigsten Bedingungen mit zu den besten Absolventen in den letzten Semestern an der Universität gehören...

… eine wichtige Entwicklung …

… ganz wichtig. Die Jesiden im Nahen Osten haben so gut wie nichts. Aber für sie ist es wichtig, dass ihre Kinder den Weg der Bildung ergreifen. Die jesidische Gemeinschaft ist seit Jahrhunderten mündlich vermittelt. Wir haben keine Art Schriftfassung wie die Bibel oder den Koran. Und jetzt gibt es diese Erkenntnis: Wir müssen in die Bildung investieren. Das gibt ein Stück Hoffnung.

Hierzulande haben die Jesiden diesen Weg schon früher eingeschlagen. Welchen Stellenwert hat Deutschland für die Jesiden?

Einen sehr großen. Von insgesamt etwa einer Millionen Jesiden leben rund 150 000 in Deutschland, das damit für uns weltweit die größte Diaspora darstellt. Die ersten kamen in den 1970er-Jahren, überwiegend aus der Türkei . Seither beobachten wir einen rasanten Bildungsaufstieg und auch sozialen Aufstieg.

Nimmt man die aktuelle Situation im Nordirak, würde es kaum verwundern, wenn es in Zukunft noch mehr Jesiden nach Deutschland zieht?

Wenn es keine Stabilität gibt, keine Sicherheit, keine Zukunftsperspektive, dann ist klar, dass die Menschen schauen, wo sie sich in Sicherheit bringen. Und der größte Anker in der Diaspora für die Jesiden ist nun mal Deutschland.

Was bedeutet dies für die jesidische Gemeinschaft hierzulande?

Im Nahen Osten waren die Jesiden überwiegend unter sich. Es war alles viel homogener. Hier in der Diaspora leben wir in der Vielfalt der Religionen und der Kulturen, hier haben wir schon die vierte, fünfte Generation an Jesiden, die sehr positiv integriert sind. Die auch zu Partnerschaft und Heirat ein aufgeschlossenes Verhältnis hat, aufgeschlossener als jene Generation, die beispielsweise vor einem Jahr aus dem Nordirak herkam. Das stellt die Gemeinschaft vor große Herausforderungen. Da prallen Generationen aufeinander.

Sie sprechen dabei auch die strengen Heiratsregeln der Jesiden an …

… genau. Man ist Jeside, wenn beide Elternteile Jesiden sind. Es gibt keine Konversion, es gibt keine Missionierung. Aber, das zeigen unsere Umfragen, unter jenen Jesiden, die schon lange hier leben, sind etwa 25 Prozent für eine Öffnung der strengen Heiratsregeln, sonst können wir uns nicht erhalten, sagen sie. Und dann gibt es die anderen Jesiden aus dem Irak, die sehr stark religiös sind und sehr stark darauf pochen, dass Jesiden nur Jesiden heiraten.

Verschiedene Generationen, verschiedene Lebenswelten, wie aber gehen die Jesiden insgesamt mit dem Genozid an ihrer Völkergemeinschaft um?

Dazu haben wir geforscht, Daten erhoben und ganz klar festgestellt: Der Genozid ist an niemandem spurlos vorbeigegangen. Er stellt eine kollektive Traumatisierung dar. Und die Belastung ist enorm. Der Jesiden- Genozid 2014 wird noch viele Generationen in ihrem Selbst- und Weltverständnis, in ihrem Sicherheitsempfinden und ihrer Identität stark beeinflussen. Es bleibt zu hoffen, dass diese friedfertige Gemeinschaft auch diesen Genozid bewältigt und ihre kollektive Widerstandsfähigkeit bewahrt.

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