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Mäuerchen

Bilder vom Leben in der Fremde

Baden-Württemberg / Lesedauer: 6 min

Die Fotografiestudenten Sebastian Cunitz und Julius Matuschik porträtieren Flüchtlinge auf dem Weingartener Klosterareal
Veröffentlicht:14.08.2014, 12:19

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Der Klostergarten mit seinen Mäuerchen und dem Teich, die barocke Basilika, der Blick über Stadt und Gegend – Sebastian Cunitz und Julius Matuschik haben sich einen besonderen Ort für ihr Fotoprojekt ausgesucht. Es ist der Ort, an dem die Kirche das tut, was Papst Franziskus im Sommer 2013 forderte: Sie beherbergt Flüchtlinge. 39 Männer aus afrikanischen Ländern leben seit April dieses Jahres dort.

Als die beiden Studenten auf Zeitungsberichte über Bischof Gebhard Fürsts Vorstoß vom vergangenen Herbst aufmerksam wurden, war ihnen klar: In Weingarten könnten besondere Bilder entstehen. „Gastfreundschaft ist in allen Weltreligionen eine zentrale Wertevorstellung und Botschaft“, sind sich Cunitz und Matuschik einig, die beide vom Bodensee stammen und in Hannover Fotografie studieren.

Die zwei zeigen in ihren Aufnahmen Porträtbilder von Asylbewerbern und lichten auch die Orte ab, wo die Flüchtlinge untergebracht sind. „Wir wollen Bilder schaffen, die sich von den üblichen unterscheiden. Wir fotografieren die Menschen nicht, als seien sie Flüchtlinge“, sagt Sebastian Cunitz. „Wir wollten die privaten Momente einfangen“, beschreibt der 30-Jährige die Absicht hinter dem Fotoprojekt. „Uns ging es darum, auf Augenhöhe mit den Flüchtlingen zu sein“, ergänzt der 27Jahre alte Julius Matuschik.

Es geht um Gastfreundschaft

Die Fotografien werden in einem eigenen Magazin veröffentlicht. „Cameo“ nennen die Fotografen ihr Projekt, Englisch für „Kurzauftritt“. Neben jedem Bild stehen Briefe der Porträtierten – in Handschrift eingescannt, daneben die Übersetzung. In den Briefen geht es nicht darum, Erlebnisse der Flucht auszubreiten. Diese traumatische Phase nochmal zu durchleben, sei für viele hart und verstörend. „Sie sind froh, wenn sie diese Momente vergessen können“, sagt Sebastian Cunitz, der in Markdorf aufgewachsen ist. Die zwei jungen Männer wählten einen anderen Ansatz. Gedanken zur Gastfreundschaft stehen im Mittelpunkt der Briefe. Sie verleihen Menschen eine Stimme, die oft nur als Zahlen und Statistiken wahrgenommen werden. „Ich weiß nicht was ich mit meinem Tag anfangen soll, habe nichts zu tun, keine Freunde, keine Schule, kein Sport“, schreibt einer.

Anfangs wussten die Flüchtlinge in Weingarten nicht so recht, was sie mit den Fotografen anfangen sollten. Die mediale Aufmerksamkeit, die sie bereits vor ihrer Ankunft in Weingarten erfahren haben, hat sie zurückhaltend gemacht. „Aber als sie verstanden haben, dass wir nicht über ihre Flucht reden wollen, fiel es ihnen leichter, Vertrauen zu fassen“, sagt Julius Matuschik, der aus Radolfzell stammt. Wichtig sei auch, dass man zu zweit arbeite. So könne immer einer für den Porträtierten da sein, falls der andere gerade mit der Fotoausrüstung hantiert.

Die Gegensätze wirken

Drei Ausgaben des Cameo-Magazins soll es geben. Weingarten ist der zweite Ort, an dem Sebastian Cunitz und Julius Matuschik Flüchtlinge fotografieren. Während der dritte Ort noch offen ist, entstanden die ersten Fotos in Aachen an der belgischen Grenze. Die Stadt ist die erste Station in Deutschland, die der Hochgeschwindigkeitszug „Thalys“ auf seinem Weg von Paris nach Köln passiert. Grenzbeamte kontrollieren die Züge. Minderjährige ohne gültige Papiere müssen in der Kommune bleiben, in der sie aufgegriffen wurden. Durch einen Zeitungsbericht erfuhren Cunitz und Matuschik von Flüchtlingen in einem Aachener Hotel. „Das wollten wir uns anschauen.“ Das Warten im Hotel, die Langeweile, auch die Unsicherheit, wie es weitergeht, das alles sollte in den Aufnahmen sichtbar werden.

Die Bilder aus Aachen wirken durch die Gegensätze. Menschen, die alles hinter sich gelassen haben, dann wieder Details aus dem Hotelalltag: hier der Wäschewagen, da das Drei-Sterne-Schild. Ein Bild zeigt einen Flüchtling auf dem Bett liegend, es ist dunkel, nur der Schein eines Laptop-Bildschirms erhellt die Szene. Was er sieht, entzieht sich dem Blick des Betrachters. Eine Internetseite mit Nachrichten aus seiner Heimat vielleicht, eine Mail von der Familie, die er zurücklassen musste – es sind Bilder, die zum Denken anregen. Sie sollen Verständnis für die Situation von Flüchtlingen schaffen und zur Offenheit beitragen. Bewusst verwenden Cunitz und Matuschik bei ihrer Arbeit keine Digitalkameras, die sofort das Resultat zeigen, sondern Fotoapparate, bei denen man den Film entwickeln muss. Der gebürtige Münchner Cunitz ist überzeugt: „Wenn man analog arbeitet, konzentriert man sich mehr auf dieses eine Bild.“ Es sei eine bewusstere Herangehensweise.

Ein persisches Sprichwort

Neben den Bildern lebt das Cameo-Magazin von den Briefen. „Extrem reflektiert“ seien die Gedanken darin zum Teil. „Die Texte zu lesen, das war für uns ein Aha-Effekt“, sagt Sebastian Cunitz. Was die minderjährigen Flüchtlinge in Aachen geschrieben haben, lässt einen Einblick in die Gedanken und Gefühle der Asylbewerber zu. An einer Stelle steht zu lesen: „In der Hoffnung, dass eines Tages wieder in meinem Land Frieden, Ruhe und Barmherzigkeit zurückkehrt.“ Ohnmacht und Isolation sprechen aus manchen Zeilen: „Ich habe mich verändert, seitdem ich hier angekommen bin. Früher war ich sehr extrovertiert, aber jetzt ziehe ich mich immer mehr zurück. Ich gehe nicht viel raus, ich meide die Menschen und sperre mich in mein Zimmer ein, ich bin nur an meinem Computer und verlasse das Zimmer nur, wenn ich etwas Wichtiges erledigen muss.“

Ein anderer hat ein persisches Sprichwort an den Beginn seines Briefes gestellt: „Ein Gast ist die Liebe Gottes.“

Um weitere Cameo-Magazine zu veröffentlichen, sind die Macher auf Geldgeber angewiesen. „Wir haben einen Verlag gefunden, der das Projekt vorfinanziert“, sagt Sebastian Cunitz. Nun suchen er und Julius Matuschik nach Menschen, die das Projekt mittragen. Über die Crowdfunding-Plattform Starnext kann man sich beteiligen und bekommt im Gegenzug ein Dankeschön, in Form von Fotos oder Magazinen etwa. 9000 Euro sollen auf diese Weise zusammenkommen. Das Cameo-Magazin soll dann auch im Buchhandel erhältlich sein. Mit ihren Bildern waren die beiden Fotografen auch schon auf Ausstellungen in Berlin („48 Stunden Neukölln“) und auf dem Hannoveraner Fuchsbau-Festival vertreten. Im September präsentieren sie ihr Projekt auf der Photokina in Köln, die als wichtigste Branchenmesse gilt. Eine Rückkehr nach Weingarten ist auch angedacht. Dort könnten die Arbeiten in den angrenzenden Räumen der Diözesan-Akademie ausgestellt werden. Mehr Infos über das Projekt unter www.startnext.de/cameo