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Bayerns Neuanfang: Vor 75 Jahren wurde der Freistaat gegründet

München / Lesedauer: 4 min

Vor 75 Jahren wurde der Freistaat gegründet – auf Befehl eines Amerikaners
Veröffentlicht:18.09.2020, 20:24

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Der „Mia-san-mia“-Bayer wird vielleicht sagen, es sei doch klar, dass ein so tolles Land mehrfach gegründet wird. Vom Stammesherzogtum über das Königreich und den Freistaat bis zum wohl glanzlosesten Akt, der sich am Samstag zum 75. Mal jährt. Am 19. September 1945 verfasst General Dwight D. Eisenhower, oberster Befehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa, die Proklamation Nr. 2, in der er drei Staaten in der amerikanischen Besatzungszone für gegründet erklärt: Groß-Hessen, Württemberg-Baden – das erst 1952 in Baden-Württemberg aufging – und Bayern: der Freistaat in seinen Grenzen von 1933. Nur ohne den Kreis Lindau – denn anders als der Rest von Bayern gehörte der nicht zur amerikanischen sondern zur französischen Besatzungszone und wurde erst 1956 wieder dem Freistaat zugeschlagen.

Die Staaten sollten „volle gesetzgebende, richterliche und vollziehende Gewalt“ erhalten. Jeder Staat sollte zudem eine Staatsregierung haben: Ihr stand in Bayern der erste Nachkriegs-Ministerpräsident Fritz Schäffer (CSU) vor. Er war bereits im Mai von der Militärregierung ernannt worden. Die Staatsgründung sei der „Nachvollzug“ dieser Ernennung gewesen, sagt Thomas Schlemmer , Dozent an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.

Die Aufteilung der Besatzungszone in Länder sei eine wichtige Grundlage für die BRD gewesen – die Proklamation sieht Schlemmer als „Eckstein der Föderalismusgeschichte“. An den Machtverhältnissen änderte sich aber erst mal nichts, die Amerikaner hatten das eigentliche Sagen. Eisenhower war Oberbefehlshaber der amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland, in Bayern war General George Patton regionaler Oberbefehlshaber, ein „sehr hemdsärmeliger Truppenführer“, wie Schlemmer sagt.

Die neue Zeit in Bayern war denn auch an anderen Veränderungen zu bemerken als an Verfassungsfragen. Die Verwaltung musste wiederaufgebaut werden – ohne NSDAP-Mitglieder, die Bevölkerung musste durch die „reeducation“ Demokratie lernen, Kriegsverbrecher und NS-Würdenträger aufgespürt werden, Versorgung und Infrastruktur wiederhergestellt und Waffen sichergestellt werden – und das alles in einem sehr „kapillaren“ System, wie Schlemmer es nennt. Jeder Kreis habe praktisch seine eigene amerikanische Militärregierung gehabt. „Das strahlte in den Alltag der Menschen hinein.“

Und was die Menschen im Trümmerland bewegte, spiegelt auch die Tagesordnung der dreieinhalbstündigen Ministerratssitzung wider, die Fritz Schäffer just am Tag der Wiederauferstehung Bayerns leitete. Die Brennstoffversorgung, Holzdiebstahl, beschlagnahmter Hopfen, die Flüchtlingsfrage und die Entnazifizierung, die zum „Zusammenbruch zahlreicher Finanzämter“ geführt habe, das war wichtig. Blumen für Bayern zum Neuanfang? Man hatte anderes zu tun. München war zu 33 Prozent zerstört, Nürnberg zur Hälfte, Augsburg zu einem Viertel. Insgesamt war Bayern mit einem Anteil von fünf Prozent an den deutschen Schäden dennoch gut weggekommen. Zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene strömten ins Land, vor allem Sudetendeutsche. Erst im August war der erste Nachkriegsstadtrat von München zusammengetreten. Zehn ehemalige KZ-Häftlinge aus Dachau waren darunter. Zwei Tage vor Neugründung Bayerns öffneten die Münchner Volksschulen wieder. Der Gesundheitszustand der Menschen in der Landeshauptstadt wird trotz aller Entbehrungen als „im Allgemeinen befriedigend“ bewertet. In seiner ersten Regierungserklärung hatte Schäffer bekannt: „Wir wollen in Bayern Menschen, die frei nach ihrer Art leben wollen; die in christlichem Glauben Unrecht hassen und für den Gedanken des Rechts leben und kämpfen (…).“

Schäffers Tage im höchsten Regierungsamt allerdings waren gezählt: Neun Tage nach der Proklamation Nr. 2 setzten die Amerikaner ihn ab, weil er für ihren Geschmack zu wenig für die Entnazifizierung des öffentlichen Dienstes getan hatte. Wilhelm Hoegner (SPD), der heute als Vater der bayerischen Verfassung gilt, wurde sein Nachfolger.

Erst im Dezember 1946 wird der erste bayerische Landtag nach dem Krieg gewählt – und damit „die erste demokratisch legitimierte Regierung Bayerns seit der Weimarer Republik“, resümiert Schlemmer. Die Präambel der Verfassung spiegelt auch die Verfasstheit der Bayern in jener Zeit wider: „Angesichts des Trümmerfeldes“, das der NS-Staat hinterließ, „(…) gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung“.