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Linksschuss

Fredi Bobic über den EM-Sieg 96: „Wir waren nicht die besten Spieler, aber der beste Kader“

Ravensburg / Lesedauer: 8 min

VfB-Legende Fredi Bobic erinnert sich an den letzten deutschen EM-Triumph 1996 und sieht Parallelen zu heute
Veröffentlicht:11.06.2021, 09:57

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Wembley, 30. Juni 1996, 22.08 Uhr: Mit einem verunglückten Linksschuss aus einer wenig grazilen Drehung trifft Oliver Bierhoff im EM-Finale gegen Tschechien zum 2:1 – und macht Deutschland damit zum Fußball-Europameister. Wenig später überreicht Queen Elizabeth II. den silbernen EM-Pokal an Kapitän Jürgen Klinsmann, der ihn freudestrahlend in den Londoner Nachthimmel reckt. Es sind Bilder, die nahezu jeder Fußballfan vor Augen hat, wenn er an den letzten deutschen EM-Triumph denkt.

25 Jahre später blickt Fredi Bobic, einziger Spieler des VfB Stuttgart im damaligen DFB-Kader und heutiger Geschäftsführer von Hertha BSC Berlin, auf eine unvergessliche EM im Mutterland des Fußballs zurück.

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Im Interview mit Martin Deck spricht der 49-Jährige über das unfassbare Verletzungspech der deutschen Mannschaft, Helmut Kohl in einer viel zu kleinen Kabine und die Chancen der DFB-Auswahl bei der anstehenden EURO.

Herr Bobic, mal provokant gefragt: Haben Sie Deutschland 1996 zum Europameister gemacht? Schließlich wäre Oliver Bierhoff im Finale wohl kaum eingewechselt worden und hätte das Golden Goal schießen können, wenn Sie sich im Viertelfinale nicht verletzt hätten.

(Lacht) Das ist eine schöne These, würde ich aber nicht so sehen. Das wäre mir doch zu viel Lob. Ich war einer von vielen, und jeder hat seinen Teil dazu beigetragen, dass dieser Erfolg möglich war.

Sie konnten aber nur die ersten vier Spiele direkt mithelfen. Was genau ist im Viertelfinale gegen Kroatien passiert?

Ich wollte kurz vor der Halbzeit einen schönen Kopfball ansetzen. Plötzlich sind Slaven Bilic und Christian Ziege von hinten in mich reingeflogen, und mir hat es die Schulter herausgerissen. Ich habe dann zwar noch bis zur Halbzeit weitergespielt und auch in der Pause alles versucht, um die Schmerzen in Griff zu bekommen, aber das war nicht möglich.

Sie waren nur einer von vielen Invaliden, angefangen mit Kapitän Jürgen Kohler, der sich bereits nach 13 Minuten im ersten Spiel verletzte. Wie haben Sie die Situation damals erlebt?

Es gibt ein symbolisches Bild, auf dem Thomas Helmer nach dem Halbfinale mit zwei riesigen Eisbeuteln um sein Knie herumspaziert. Das war sinnbildlich für die ganze Mannschaft. Es gab wirklich vom ersten Tag an Ausfälle über Ausfälle, jedes Spiel hat es einen anderen erwischt. Der ein oder andere wurde noch halbwegs fit gemacht. Jürgen Klinsmann zum Beispiel hat das Finale sogar mit einem Muskelfaserriss gespielt – eigentlich unmöglich. Und so ist er auch mehr rumgelaufen als gerannt, war physisch anwesend, wie man so schön sagt. Die vielen Verletzungen waren ein unfassbares Pech, haben aber auch die Qualität des Kaders gezeigt, weil wir das auffangen konnten. Wir waren nicht die besten elf Spieler, aber der beste Kader der EM.

Von der Queen geehrt: Kapitän Jürgen Klinsmann reckt nach dem 2:1-Sieg im Finale gegen Tschechien den Pokal in den Londoner Nachthimmel.
Von der Queen geehrt: Kapitän Jürgen Klinsmann reckt nach dem 2:1-Sieg im Finale gegen Tschechien den Pokal in den Londoner Nachthimmel. (Foto: imago sportfotodienst/Schwäbische.de)

Die Situation war so schlimm, dass Bundestrainer Berti Vogts für das Finale Jens Todt vom SC Freiburg nachnominieren durfte und sogar ankündigte, die Ersatztorhüter Oliver Kahn und Oliver Reck im Notfall im Feld einzusetzen. So weit kam es nicht, aber hätten Sie die beiden gerne spielen sehen?

(Lacht) Ehrlich gesagt bin ich froh, dass es so weit nicht gekommen ist. Beide waren nämlich fußballerisch bei Weitem nicht so gut wie ein Manuel Neuer heute.

Hat die Misere die Mannschaft noch mehr zusammengeschweißt? Schließlich haben ihr vor dem Turnier nicht viele den Titel zugetraut.

Ganz sicher. Wir hatten einen enormen Teamgeist, der uns das ganze Turnier über getragen hat. Auch die Verletzten sind alle in England bei der Mannschaft geblieben, keiner ist enttäuscht nach Hause gefahren und hat gesagt, das interessiert mich jetzt nicht mehr. Wir haben uns weiter gegenseitig heiß gemacht.

So blieb Ihnen beim legendären Halbfinale gegen England (6:5 n.E.) und im Endspiel gegen Tschechien (2:1 n.V.) immerhin die Rolle des Einheizers. Wie haben Sie die Spiele von der Bank aus erlebt?

Das Halbfinale war natürlich ein ganz besonderes Erlebnis, die Atmosphäre im alten Wembley-Stadion war sensationell. Dazu kam die Dramatik mit Verlängerung und Elfmeterschießen. Aber ich hatte dabei ein sehr gutes Gefühl und war mir sicher, dass wir das gewinnen, weil Andi Köpke im Tor in der Form seines Lebens war. Das Finale war dann ganz anderes, überhaupt kein schönes Spiel, eigentlich zum Weggucken. Der 2:1-Siegtreffer von Oli Bierhoff hat da bestens gepasst: Er war so schön, wie das Finale selbst (lacht).

Kein Traumtor, aber das erste Golden Goal der Fußball-Geschichte. War Ihnen sofort klar, jetzt sind wir Europameister, schließlich gab es so etwas ja noch nie zuvor?

Nein, uns war zunächst nicht so richtig bewusst, dass das Spiel aus ist. Wir haben zwar über das Tor gejubelt, aber bis wir begriffen haben, dass wir jetzt Europameister sind, hat es einen ganzen Augenblick lang gedauert.

Anschließend kam der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in die Kabine. Wie war das?

Die Feier in den alten, kleinen Kabinen und Nasszellen des Wembley-Stadions war phänomenal. Wir haben uns in die Badewannen gelegt, haben die Zigarren rausgeholt, und es ist natürlich auch Alkohol geflossen. Und wie hat Mehmet Scholl mal so schön gesagt: Als Helmut Kohl reinkam, wurde es mal kurz dunkel im Raum. Seine Masse war beeindruckend.

Fredi Bobic (v.l.) feiert mit Jürgen Klinsmann uns Stefan Kuntz den Gewinn der Europameisterschaft 1996.
Fredi Bobic (v.l.) feiert mit Jürgen Klinsmann uns Stefan Kuntz den Gewinn der Europameisterschaft 1996. (Foto: TEAM2/imago images/Schwäbische.de)

Allein am Namen Kohl sieht man, wie lange der letzte deutsche EM-Titel zurückliegt? Warum hat es keine DFB-Auswahl in den vergangenen 25 Jahren mehr geschafft, die EM zu gewinnen?

Meiner Meinung nach ist eine Europameisterschaft schwerer zu gewinnen als eine Weltmeisterschaft. Die Qualitätsdichte in Europa ist extrem groß, auch wenn das Ganze durch die Aufstockung von 16 auf 24 Mannschaften mittlerweile etwas verwässert wird. Aber über Jahre hinweg gab es einfach kein Fallobst, da darfst du dir einfach keine Fehler erlauben und musst vom ersten bis zum letzten Spiel Topleistungen abrufen. Leider hat es in den letzten Jahren nie ganz bis zum Titel gereicht, aber wir waren häufig ganz nah dran.

Wie 1996 zählt auch die aktuelle Mannschaft nicht zu den ganz großen Favoriten. Trauen Sie ihr dennoch den Titel zu?

Wenn wir diese Todesgruppe überstehen, auf jeden Fall. Auch wir waren damals mit Italien, Russland und Tschechien, das vorher von vielen belächelt wurde, aber letztlich sogar gegen uns im Finale stand, in einer richtig schweren Gruppe. In diesem Jahr warten gleich in den ersten beiden Spielen mit dem Weltmeister Frankreich und dem Europameister Portugal zwei ganz brutale Gegner. Wenn man so eine Gruppe übersteht, kann das auch beflügeln.

Sie waren 1996 der einzige Spieler des VfB Stuttgart im deutschen Kader, aktuell gibt es keinen deutschen Nationalspieler vom VfB. Schade?

Nein, das ist kein Grund sich zu grämen. Es ist zwar kein aktueller Spieler vom VfB dabei, aber einige Jungs, die in Stuttgart groß geworden sind. Wenn ich an Antonio Rüdiger, Bernd Leno, Timo Werner oder Joshua Kimmich denke – da kann der VfB richtig stolz sein, dass er sie zum Nationalspieler ausgebildet hat.

Zudem steht ein Ex-Stuttgarter an der Seitenlinie. Sie kennen Jogi Löw gut, er war ihr Trainer beim VfB. Hat Sie seine Rücktrittsankündigung überrascht? Und trauen Sie ihm zu, in der Mannschaft noch einmal das Feuer für einen Titel zu entfachen?

Ehrlich gesagt, hat es mich nicht überrascht, als er sagte, dass jetzt gut ist. Jogi hatte eine überragende Zeit als Bundestrainer, und es ist schön, dass er sich den Zeitpunkt des Rücktritts selbst rausgesucht hat und nicht gehen musste. Ich bin mir sicher, dass er alles daran setzen und kompromisslos daran arbeiten wird, seine Zeit beim DFB mit einem weiteren Titel zu beenden. Wenn du weißt, das ist dein letztes Turnier, dann haust du noch mal alles rein.

Sie werden das Turnier als TV-Experte bei MagentaTV verfolgen. Wie gehen Sie diese Aufgabe an?

Wer mich kennt, weiß, dass ich immer sage, was ich fühle. Ich will klar und deutlich ansprechen, was mir gefällt und was nicht – immer aber, ohne verletzend zu sein. Das Wichtigste ist, dass die Tonalität stimmt, es darf nie oberflächlich und populistisch sein. Dabei hilft mir natürlich auch, dass ich als ehemaliger Nationalspieler und heutiger Clubmanager vieles kenne und bessere Einblicke habe und durch meine Spieler aus Frankfurt und jetzt Berlin natürlich auch viel über die anderen Nationen mitbekomme.

Parallel beginnt für Sie ein neues Kapitel als Geschäftsführer bei Hertha BSC. Ist da der Job als TV-Experte keine zusätzliche Belastung?

Nein, überhaupt nicht. Ich hätte mir die Spiele sowieso angeschaut, und ob ich das jetzt im TV-Studio oder zu Hause auf dem Sofa mache, macht für mich keinen Unterschied. Ich finde trotzdem noch genug Freiraum für meine Arbeit bei der Hertha und freue mich einfach darauf, bei der EM ein Stück weit dabei zu sein.