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Nächstenliebe

Ein Ölmann aus Tonga und ganz viel Nächstenliebe

Sport / Lesedauer: 9 min

Die Höhe- und Tiefpunkte der Olympischen Spiele in Brasilien
Veröffentlicht:22.08.2016, 19:41

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17 Tage und 306 Wettbewerbe lang dauerten die Olympischen Spiele, am Ende gewannen die USA wie stets den Medaillenspiegel, Swasiland ging wie so oft leer aus. Seit die 10500 Athleten wieder zu Hause sind, wird überraschenderweise nicht mehr gemotzt über den Gastgeber aus Brasilien, sondern nur noch über die Missstände in den jeweiligen Heimatländern. Der SZ-Reporter beleuchtet – subjektiv und mit Augenzwinkern – die Hoch- und Tiefpunkte der ersten Spiele in Südamerika.

Helden der Arbeit

Pita Nikolas Aufatofua: Es ging super los in Rio , mit einem 32-jährigen Taekwondo-Kämpfer aus Tonga, der mit seinem ölverschmierten Körper bei der Eröffnungsfeier an James Dean in „Giganten“ erinnerte. Bloß, und das ist eben das Entscheidende, dass Herr Aufatofua im Gegensatz zu Herrn Dean kein Hemd trug. Als die Zuschauerinnen dieser Welt den Ölmann sahen, buchten viele von ihnen sofort einen Direktflug nach Tonga. Geboren wurde Aaufatofua in Aus-tralien, sein Vater stammt aus Tonga, untenrum trug er ein Ta’ovala, den landestypischen Rock für Männer und Frauen. Im Einölen ist Aufatofua Weltklasse, mit dem Kämpfen hat er es nicht so – in der ersten Runde verlor er mit 1:16 gegen einen Iraner.

Nikki Hamblin : Im 5000-Meter-Halbfinale stürzte Abbey D’Ago-stino aus den USA, und was tat die Neuseeländerin Nikki Hamblin, die über sie stolperte? Statt weiterzulaufen, kümmerte sich die 28-Jährige um die Rivalin und sagte ihr, sie müsse aufstehen und weiterlaufen. Doch D’Agostino hatte sich am Knie verletzt. Also humpelten und hinkten die beiden gemeinsam ins Ziel, dort fielen sie sich in die Arme und weinten. Es war einer der größten Momente von Rio. „Dieses Mädchen, das ist der olympische Geist“, sagte D’Agostino danach. Beide durften dank der Jury am Finale teilnehmen, aber nur Hamblin konnte, sie wurde Letzte. Das IOC zeichnete sie für ihre Nächstenliebe mit der Pierre-de-Coubertin-Medaille aus.

Sebastian Brendel: Der Kanute aus Potsdam wurde nicht nur Doppel-Olympiasieger, er durfte auch die Fahne bei der Abschlussfeier tragen und machte sich im Kampf gegen Doping verdient. Kurz nach seiner ersten Ehrung postete er ein neues Siegerfoto auf Facebook. Den Kopf des moldawischen Dritten Serghei Tarnovschi, der über Brendels Schulter schaut, hatte er geschwärzt – der 19-Jährige war vor dem Wettkampf positiv getestet wurden, das Verfahren war aber noch nicht abgeschlossen, deshalb durfte er starten. „Ich muss mein Foto aktualisieren. Ich bin wütend und hoffe, dass es für solche Personen keinen Platz mehr im Sport gibt“, schrieb Brendel.

Lee Eun-ju /Hong Un-jong: Es war nur ein Selfie, wie es jeden Tag milliardenfach auf der Welt gemacht wird. Und doch ging es um die Welt. Lee Eun-ju, eine 17 Jahre junge Turnerin aus Südkorea, fragte Hong Un-jong (27), Olympiasiegerin von 2008 im Sprung, um ein Foto als Souvenir, und die, eine Volksheldin aus Nordkorea, sagte ja. Weil die beiden natürlich von irgendeinem dabei fotografiert wurden, ist Lee jetzt berühmt. Grund: Zwischen den beiden Koreas herrscht derzeit Alarmstimmung, 2000 in Sydney und 2004 in Athen waren beide Länder noch unter einer Flagge eingelaufen. Lee sagte: „Ich verstehe nichts von Politik, aber ich denke nicht, dass wir ein zerrüttetes Verhältnis zu Nordkorea haben. Wir grüßen uns hier alle untereinander und kommen mit Sportlern aus vielen Ländern in Kontakt – warum sollen wir Koreaner also das nicht tun?“ Ja, warum eigentlich nicht?

Der olympische Pool: Viele klagten darüber, dass er plötzlich grün statt blau war, dabei war die Erklärung einfach, jeder Chemie-Grundkurs hätte das Rätsel gelöst. Ein Poolboy hatte ein umweltschonendes Reiningungsmittel namens Wasserstoffperoxid ins Becken gefüllt, allerdings vergessen, einen Algenbekämpfer hinzuzufügen. Außerdem fehlten ihm offenbar Chemiekenntnisse, denn der Aktivsauerstoff reagierte mit dem Chlor und erzeugte einen herben Geruch. Schlecht sah das grüne Becken aber keineswegs aus, im Gegenteil. Den SZ-Reporter erinnerte es an einen Film aus seiner Kindheit, er hieß „Die grüne Lagune“, Richard Gere, Julia Roberts und Kermit, der Frosch spielten mit. Der Film war ein Riesenerfolg damals, ein echter Straßenfeger, vielleicht sollten Leo DiCaprio und Gisele Bündchen ein Remake in Rio drehen.

Joao Victor Fornaziero Bispo Prado: Der neunjährige Brasilianer war der härteste Gegner von Tennissieger Andy Murray. Dass ihm der schottische Wimbledon- und Olympiasieger ein Autogramm gab, aber danach den Stift klaute und abhaute, das ging gar nicht. Schließlich gibt es noch mehr Stars bei Olympia , und so ein Stift leistet da wertvolle Dienste. Also hastete der Knirps Murray quer über den Center Court hinterher, am verdutzten Securitypersonal vorbei, tippte Murray an und machte ihm klar: „My pen (mein Stift)“. Er habe nicht nachgedacht, sei einfach losgelaufen, sagte der Kleine. Fast lyrisch wurde es, als er beschrieb, wie es war, als er Murray berührte. Sein Idol habe „vibriert“, meinte Joao Victor. Tatsächlich war der Schotte vor Schreck zusammengezuckt.

Rafaela Silva: Die 23-Jährige holte das erste Gold für Brasilien, Silvas Geschichte wühlte das Land auf. Die Judokämpferin wuchs in der Nähe des Olympiadorfs auf, in einer Favela, wie 1,5 Millionen andere Cariocas – in der Favela Cidade de Deus. Das Armenviertel im Westen Rios wurde 2002 bekannt als Schauplatz des Films „City of God“. Kinder, die hier aufwachsen, hat der Staat vergessen oder nie kennengelernt, sie leben in Angst, umgeben von Waffen, Drogen, Kriminalität. Silva fing mit fünf mit dem Judo an. Sie wollte einfach nur spielen. Nach den Spielen in London, als die WM-Zweite früh scheiterte, war Silva in sozialen Netzwerken rassistisch beleidigt, als Affe bezeichnet worden. Sie konnte nichts mehr essen, sie bekam Depressionen. Vier Jahre später gab sie die Antwort auf der Matte.

Die etwas missverstanden haben

Byambarenchin Bayoraa: Mit der Mongelei ist es wie mit den Hämorrhoiden, es gibt innere und äußere. Außerdem gibt es wütende Mongolen wie Byambarenchin Bayoraa. Der Ringertrainer strippte aus Protest gegen ein Urteil der Kampfrichter, das seinen Schützling Mandakhnaran Ganzorig Bronze kostete. Er zog Schuhe und Hemd aus und warf alles wutentbrannt auf die Matte, sein Kollege Tsenrenbataar Tsostbayar entkleidete sich fast vollständig. Die brasilianischen Fans reagierten darauf, wie es sich für faire Zuschauer gehört: mit „Mongolei, Mongolei“-Sprechchören.

Ryan Lochte: Der 32-Jährige, zwölfmaliger Olympia-Medaillengewinner und damit Schwimmer Nummer 2 hinter Michael Phelps, wandelte in Rio auf den Spuren eines literarischen Helden. Bei Büchner sagt der Doktor gegen Ende: „Ich hab’s gesehn, Woyzeck; er hat auf die Straß‘ gepisst, an die Wand gepisst, wie ein Hund“, und genau das tat Lochte auch, an einer Tankstelle, zusammen mit drei Kameraden, worauf sich ein Disput mit der Security entwickelte. Die US-Boys gaben danach vor, überfallen worden zu sein. Vermutlich hatten sie getrunken, Lochte mutmaßlich aus Frust, denn erstmals hatte er keine Einzelmedaille geholt, nur Gold mit der Staffel. Erst nach Zahlung einer saftigen Geldstrafe durfte das Quartett ausreisen.

Michel Temer: Eigentlich sollte man mit 65 in Rente gehen, und im Falle Michel Temer wäre das wohl keine schlechte Idee, denn als Politiker scheint er nicht arg geschätzt zu werden, und das sollte ja Grundvoraussetzung für so einen Präsidenten sein. Temer, Chef des PMDB, ist eigentlich Vizepräsident von Brasilien, im Mai übernahm er nach einem Staatsstreich die Regierungsgeschäfte während der sechsmonatigen Suspendierung von Dilma Rousseff. Im September will Temer endgültig der mächtigste Mann des 215-Millionen-Einwohner-Staats werden, aber das sollte er sich nochmal überlegen. Als er am 5. August Olympia eröffnete, war seine Stimme alsbald nicht mehr zu hören, so laut pfiffen die Brasilianer. Der Abschlussfeier blieb Temer sicherheitshalber fern.

Italiens Reporter: Die italienischen Bogenschützinnen Guendalina Sartori, Lucilla Boari und Claudia Mandia hatten Bronze knapp verpasst, „Quotidiano Sportivo“ reagierte beleidigt. „Trio der Pummelchen“ schrieben die Journalisten – und ernteten einen Shitstorm. Mario Scarzella, Boss der italienischen Vereinigung der Bogenschützen, sagte: „Nach den Tränen, die diese Mädchen die ganze Nacht vergossen haben, mussten sie, anstatt von der italienischen Presse Unterstützung für ihr knappes Scheitern zu bekommen, auch noch diese Demütigung ertragen.“ Die Damen taten kund: „Es reicht jetzt, uns Pummelchen zu nennen. Die Spiele zeigen, dass man nicht durchtrainiert aussehen muss, um zu konkurrieren.“ Das sah auch Verleger Andrea Riffeser Monti so. Er entschuldigte sich, Chefredakteur Giuseppe Tassi wurde gefeuert.

Freigänger: Es gibt viele Möglichkeiten, so ein Leben in einem Dorf zu füllen. Man kann Bücher lesen, Pokemon spielen, Playstation zocken, Fingernägel kauen, färben oder feilen. Oder man säuft während der Olympischen Spiele. Als Sportler ist das keine gute Idee, kommt es raus, hat das meist Konsequenzen. Der Ex-Ringe-Weltmeister Yuri van Gelder etwa musste ebenso heimreisen wie Frankreichs Tennis-Ass Benoit Paire. „Man hat ihn nicht oft in Rio gesehen“, begründete Teamchef Arnaud Di Pasquale. Den belgischen Judo-Dritten Dirk van Tichelt sah man oft in Rio, sogar an der Copacabana. Dort klaute ihm ein leichtes Mädchen das Handy, bei der Verfolgung drang van Tichelt in ein Hotel ein und kassierte prompt einen Faustschlag eines Securitymanns. Freigänger leben gefährlich in Rio.

Russlands Athleten: Nervten bloß. Holten mit weniger Personal weniger Medaillen als in London, allerdings immer noch zuviel, exakt 56. Dafür winkten Putins Truppen paranoid lächelnd von der Werbetafel am russischen Haus am Fort Copacabana, bestimmt waren sie gedopt, als die Aufnahmen entstanden. Die Russen fühlen sich missverstanden. Das Problem ist: Man will sie gar nicht mehr verstehen.

Diebe in Rio: Der Kollege der „Süddeutschen“ hatte Pech. Er war nur kurz auf der Toilette im Pressezentrum, doch als er wiederkam, fehlte seine Maus. Insgesamt, das ließen die Fotografen wissen, sei in Rio Ausrüstung in Höhe eines sechsstelligen Betrags geklaut worden, auch ein paar Athleten wurden überfallen. Der SZ-Reporter hatte Glück: Alles, was er am Ende vermisste, hatte er selbst verloren und vergessen, im Pressezentrum, an der Ruderstrecke oder nachts im Bus. Todo bom.