WANGEN/KISSLEGG/REGION - Es hätte eine schöne Tour werden können: Einsteigen in Friedrichshafen, dann über Lindau nach Kißlegg fahren, von dort nach Aulendorf queren, um über Ravensburg zurück nach Friedrichshafen zu gondeln – so, wie sich der neu gegründete Interessenverband den Bodo-Ringzug vorstellt. Aber die Rechnung wurde nicht mit der Bahn und ihrem anfälligen Netz zwischen Südbahn und Allgäubahn gemacht. Und so wird aus der schönen Rundreise anlässlich 100 Tage Elektrifizierung im Regionalverkehr, zu der alle Fahrgastverbände der Bodenseeregion eingeladen hatten, nichts. Leider. Oder auch: zum Glück. Denn jetzt stehen die Sollbruchstellen nicht bloß im Raum. Sie stellen sich zur Schau.
Die Fahrt beginnt um 12 Uhr auf Bahnsteig 4 in Friedrichshafen. Noch während Ralf Derwing von der IBSB (Initiative Bodensee-S-Bahn) und Frieder Staerke von der Kreisgruppe Bodensee des VCD (Verkehrsclub Deutschland) die Mitfahrenden begrüßen, werden sie von einer Durchsage unterbrochen: „Der Regionalexpress 5 von Friedrichshafen Stadt nach Lindau-Reutin fährt heute nicht von Gleis 4, sondern von Gleis 1.“
Hämisches Schmunzeln. „Aber uns geht es heute nicht darum, die Bahn schlecht zu machen“, sagt Staerke. „Mit der größten Fahrplanumstellung seit Jahrzehnten sind deutliche Verbesserungen auf der Südbahn und der Allgäubahn gekommen.“ Aber es habe auch Verschlechterungen gegeben, und wo die Kernprobleme nun lägen und wie sie sich lösen ließen, darüber wolle man heute mit Journalisten und Politikern etwas ausführlicher sprechen.
Abfahrt in Richtung Lindau. Vom falschen Gleis zwar. Aber solange der Zug pünktlich fährt, was soll’s? Zwei Zwischenhalte und 30 Minuten später: Ankunft in Reutin. Mit einem Zug der ÖBB (Österreichische Bundesbahn) geht es weiter auf die Lindauer Insel. Die Vertreter der Fahrgastverbände loben den Zug: die Sauberkeit, die Raumaufteilung, die barrierefreie Ebene, die geringe Lautstärke beim Fahren. Einfach toll. Und billiger ist die ÖBB zudem. Mensch, die Österreicher, die machen es einfach besser.
Der Komfort dauert nur 16 Minuten. Im Inselbahnhof angekommen, erläutert Verkehrsexperte Karl Schweizer, warum er glaubt, dass die vier Bahnsteigkanten in Reutin nicht in der Lage sein werden, die bald freiwerdenden Kapazitäten des Inselbahnhofs zu kompensieren. Schweizer bekommt Rückendeckung aus der Schweiz, und zwar von Paul Stopper vom VCS Zürich: „Wir sind nicht gegen Reutin. Reutin ist richtig. Aber Reutin als Knoten zu bezeichnen, ist schlicht falsch. Das ist kein Knoten. Wir würden uns wünschen, dass in Lindau ein echter Knoten entsteht. Aber das geht nur mit dem Inselbahnhof zusammen.“
Im DB-Konzept mit dem Titel „Deutschlandtakt“ gilt ein Bahnhof dann als „Knoten“, wenn Züge im 15- Minuten Takt abfahren können. Sollten die Kapazitäten in Lindau dies nicht zulassen, erläutert Stopper, werde das den gesamten Fahrplan rund um den Bodensee bis in die Schweiz in Mitleidenschaft ziehen
Weiter geht es von Lindau nach Kißlegg mit einem Zug der Betreibergesellschaft „Go-Ahead“. Sie hat den Zuschlag für die Strecke zwischen München und Lindau von 2021 bis 2033 erhalten. In den fabrikneuen, blauen Zügen kommen die Fahrgastvertreter erneut ins Schwärmen: So leise, so komfortabel, so barrierefrei, so technisch auf dem neuesten Stand – ausnahmsweise mal besser als die Züge der Österreicher.
Vor Wangen kommt es zum unvorhergesehenen Halt: Solange der Eurocity nicht aus dem Bahnhof ausgefahren ist, darf unsere Regionalbahn 92 nicht einfahren. Eine Sicherheitsrichtlinie mit Folgen: fünf Minuten Verspätung.
In Wangen steigt Oberbürgermeister Michael Lang nicht nur in den Zug ein, sondern auch ins Schwärmen: „Die Menschen hier haben sich längst an die blauen Züge gewöhnt. Die Verbindung nach München ist jetzt eine richtig starke, richtig gute.“ Enttäuschend sei bloß, dass der Eurocity, der von Zürich nach München fahre, oft genug in Wangen stehe – aber niemand einsteigen dürfe. Weil in Wangen kein regulärer Halt sei, blieben die Türen natürlich geschlossen.
„Dass der dort halten muss, liegt an der Eingleisigkeit der Strecke“, erklärt IBSB-Vertreter Ralf Derwing, „das ist naturgemäß ein limitierender Faktor.“ Dieses eine Gleis müssten sich alle teilen: große, kleine, schnelle, langsame, elektrische und dieselbetriebene Züge. Blockiert ein Zug die Strecke, müssten die anderen warten. Habe einer Verspätung, hätten alle Verspätung. Wer Vorfahrt habe, bestimme der Fahrdienstleiter. Meistens natürlich der Eurocity, weil er die meisten Fahrgäste transportiere. Aber wenn ein anderer zuerst auf der Strecke sei, müsse der EC halt auch warten.
Und dann wird Derwing wieder unterbrochen: „Liebe Fahrgäste, aufgrund einer aufgelaufenen Verspätung von zehn Minuten konnte der Anschlusszug nach Aulendorf nicht warten.“ Warten konnte die Regionalbahn 53 aber nur deshalb nicht, weil in Kißlegg zu wenig Platz war, um die Durchfahrt aller Züge zu gewährleisten. Erst als der Anschlusszug den Platz frei gemacht hatte, durfte unser Zug einfahren. Das ist schlichtweg absurd.
Die Rundfahrt muss also pausieren. Wenigstens scheint die Sonne, und es gibt ein Café – was auf der Allgäubahn beides keine Selbstverständlichkeit ist. Kißleggs Bürgermeister Dieter Krattenmacher nutzt den Zwangsaufenthalt, um sich den Frust von der Seele zu reden: „Es ist hier täglich so. Der Bahnhof wurde im Grunde heruntergefahren und der Verkehr hochgefahren.“ Aber wie das Problem lösen? Ein schneller Umbau des Bahnhofs sei fast unmöglich, weil am Ende der Gleise eine Hauptverkehrsstraße kreuze. Das verkompliziere jedwede Maßnahme. „Es besteht wenig Hoffnung“, sagt Krattenmacher, „dass hier etwas passiert.“
Das Einzige, was für ihn wirklich Sinn ergebe, sei, die Strecke von Kißlegg nach Aulendorf zu elektrifizieren. Damit die anfälligen Dieselzüge endlich aus dem Verkehr gezogen werden können. Aber Kißlegg, das müsse man sich vorstellen, werde aufgrund uralter Verträge von Bayern aus verwaltet. Ein solches Vorhaben erfordere geradezu „internationale“ Verhandlungen. Laut Frieder Staerke sei die Strecke zwischen Kißlegg und Aulendorf auch nicht sehr teuer zu elektrifizieren, weil das Gelände unkompliziert sei: keine Ortschaften, keine Tunnel, keine Brücken.
Einen Kaffee und eine belegte Seele später soll es weitergehen. Der nächste dieselbetriebene RB53 nach Aulendorf steht zwar schon da, aber die Fahrgäste noch davor. Was ist denn hier los? Der Zugführer stapft um den Zug herum und erklärt sächsisch entnervt: „Im Moment geht nüscht.“ Kaputt. Damit endet die Rundfahrt in Kißlegg. Um pünktlich wieder in Friedrichshafen zu sein, wo die Staatssekretärin Elke Zimmer später noch zusätzliche Züge auf der Bodenseegürtelbahn verkünden will, bleibt nichts übrig, als über Lindau wieder zurückzufahren. Scheibenkleister.
Die gesche iterte Rundfahrt illustriert ziemlich deutlich, woran der Fahrplan auf Südbahn und Allgäubahn krankt: Im eng getakteten Fahrplan gibt es immer noch viel zu viele Sollbruchstellen, die Kettenreaktionen auslösen und dann nicht mehr aufgehalten werden können. Zwei Faktoren sind besonders problematisch: Wegen fehlender Elektrifizierung fahren immer noch anfällige Dieselzüge im Netz. Und wegen der Eingleisigkeit ist die Allgäubahn längst an der Maximalbelastung angekommen, sodass jede Kleinigkeit große Folgen hat.
Ein zweites Gleis führe laut Fahrgastverbänden nicht nur zu einer Verdoppelung, sondern zu einer Verzehnfachung der Leitungsfähigkeit. Deshalb laufe es auf der Südbahn aktuell stabiler als auf der Allgäubahn. Wenn man sich aber die lange Liste der Verbesserungsvorschläge der Fahrgastverbände anschaut, dann haben wir damit gerade mal an der Oberfläche gekratzt.
Laut Verkehrsministerium sei das alles jedoch nur ein Zwischenzustand. Besser werde es 2025, wenn mit Abschluss von Stuttgart 21 der nächste große Fahrplanwurf komme. Michael Scheyer
Was seither geschah
Die Begebenheit der „Test-Reise“ im April legt die größte Schwäche auf der Strecke der Allgäubahn offen: Die Strecke ist einspurig, überregionale Züge haben stets Vorrang und die modernen Nahverkehrszüge von Go Ahead das Nachsehen und damit Verspätungen. Pendler in der Region ärgern sich und berichten der „Schwäbischen Zeitung“, dass sie inzwischen aufs Auto umgestiegen sind. Doch es kommt noch dicker: Die Bahn kündigt gegen Jahresende an, mehr ECEs einsetzen zu wollen. Gut für den Fern- schlecht für den Nahverkehr. Das Landesverkehrsministerium stellt deshalb die Weichen neu und lässt Verbindungen der „DB-Diesellok-Strecke“ von Aulendorf über Kißlegg nach Wangen streichen. Das soll der Pünktlichkeit der anderen Züge dienen. (jps)