Zustrom

Lyriker José Oliver erzählt in Ulm von den vielen Körpern der Sprache

Ulm / Lesedauer: 3 min

Der Lyriker José F. A. Oliver las und erzählte im Rahmen des ersten „LyrikSommers“ in der Stadtbibliothek Ulm aus seinem Leben zwischen dem Schwarzwald und der Heimat seiner andalusischen Vorfahren.
Veröffentlicht:22.06.2022, 19:09

Von:
  • Schwäbische.de
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Sprache hat immer vom Austausch der Kulturen gelebt. Eine lebendige Literatur ohne rege Zuströme von außen – undenkbar. Der lebende Beweis ist der Lyriker José Francisco Agüera Oliver , 1961 im schwarzwälderischen Hausach geborenes Kind andalusischer Eltern, Dichter und Festivalgründer des Hausacher Lese-Lenzes. José F. A. Oliver war nun zu Gast in der Ulmer Stadtbibliothek, wo er im Rahmen des ersten „Ulmer LyrikSommers“ nicht nur aus seinen Werken las, sondern auch seine Lebensgeschichte erzählte.

Der Blick spannt sich über den halben Kontinent

Diese Lebensgeschichte ist für seine Texte essenziell von Bedeutung. Denn vom blauen Meer Andalusiens, das er als Kind immer nur in den Sommerferien sehen konnte, zum „grünen Meer“ der Wälder ums heimatliche Hausach herum spannten sich Blick und Wahrnehmung über den halben Kontinent. Und er rief dem Publikum in seiner locker fließenden Erzählung vor Augen, wie es seine Familie in den Schwarzwald verwurzelte.

Die Eltern gehörten zu den rund 600 000 Gastarbeitern, die ab den 1950er-Jahren aus den ärmsten Regionen Spaniens nach Deutschland kamen. In Hausach waren das 30 Familien, die, auf Anregung des Vaters, muttersprachlichen Unterricht erhielten.

So wuchs Oliver im Fluidum zwischen Deutsch und Spanisch auf, was er mit einer hinreißenden Anekdote veranschaulichte: „Im Obergeschoss wohnten wir, dort hieß der Mond ,La Luna’ und war weiblich. Unter uns wohnten Deutsche, da war ,der Mond’ männlich. Ein paar Treppenstufen genügen also schon, um das Geschlecht zu wechseln!“

Wie sich die Sprache des Dichters nicht nur anhand von Vorbildern wie etwa Federico Garcia Lorca, Friedrich Hölderlin oder Paul Celan schärfte, sondern eben auch die täglich erfahrenen sprachlichen Verschiedenheiten in Lyrik niederschlugen, beschreibt der Autor so: „Ich schreibe bevorzugt über das, was ich nicht begreife; ich schreibe also, um dem Verstehen näherzukommen“.

Er machte zugleich deutlich, dass nichts dem Zufall oder der Ungewissheit geschuldet ist: „Ich weiß sehr wohl, was ich schreibe.“ Es bleibe aber durch die Wurzeln in mehreren Kulturen der differenzierende Blick auf Sprache, besonders auf Redensarten. Für den Jungen, der aus dem „trockenen, vertrockneten“ Andalusien ins heimatliche „Waldmeer“ zurückkehrte, war „ins Gras beißen“ sogar etwas positiv Besetztes: „Das Frische, das saftige Grün, ein enormer Kontrast“.

Ein fein abgewogenes Wort rüttelt die Seele auf

Oliver las aus verschiedenen Bänden, schmeichelnd-zarte Verse über heimatliche „Moosreviere“ und „Hautidyllen“, wo Natur der Gang „ins unbekümmert Leise“ ist. Sinnliche Wortbilder in jeder vorgetragenen Zeile, aus dem „Lautleib“ seines Werkes. „Er traute sich die Stille zu / die den baren Versen folgt“, lautet ein solcher Vers „am Rande des Begreifens“.

Gedichte sind für Oliver stets „Partituren“, und im Vortrag machte er deutlich, dass Lyrik immer mit Klang und Performance zu tun hat. Zum Abschluss las der Lyriker, der in Kürze das Bundesverdienstkreuz erhalten wird, einen Essay, der auf einer Erinnerung fußt.

Olivers Vater war Teilnehmer des spanischen Bürgerkriegs und wusste, was Hunger bedeutet. Er erzählt – in den Worten Olivers –, wie er sich im Moment des größten Hungers auf einem Markt „direkt unter einen Serrano(-schinken) stellt und tief einatmet – danach besucht er das Brot – und kehrt heim, die Genüsse zu verdauen“.

Oliver resümiert in seinen Worten: „Der Krieg / das gefräßigste aller Mäuler“. Die gut besuchte Lesung in der Stadtbibliothek Ulm gab die Möglichkeit, einen der herausragendsten Gegenwartsdichter kennenzulernen und zu hören, wie eine gute Formulierung, ein fein abgewogenes Wort die Seele mehr aufrütteln kann als ein ganzer Roman.