StartseiteRegionalRegion Ulm/Alb-DonauUlmSo verheerend wären die Folgen einer Atombomben-Explosion in der Region

Kriegsszenario

So verheerend wären die Folgen einer Atombomben-Explosion in der Region

Ulm / Lesedauer: 8 min

Was wäre, wenn es zur nuklearen Eskalation kommen würde? Mediziner warnen davor und beschreiben ein erschreckendes Szenario.
Veröffentlicht:03.02.2023, 17:00

Von:
  • Johannes Rauneker
Artikel teilen:

„Menschen, deren Haut in Fetzen vom Körper hängt, irren umher und suchen nach Flüssigkeit, um ihren Durst zu stillen. Doch die Wasserleitungen geben kein Wasser und die Oberflächengewässer sind radioaktiv verstrahlt. In der Donau treiben Tausende von Leichen.“ – Es sind Bilder der Apokalypse. Ereignet hat sie sich in Ulm. Bodennah über der Stadt ist eine Kernwaffe explodiert.

Die Schockwellen rollen durch ganz Oberschwaben. Jedoch, zum Glück, nur in einer Fiktion. Sie trägt den Titel „Tausend Grad Celsius – das Ulm-Szenario für einen Atomkrieg“. Verfasst wurde das makaber anmutende Planspiel in Buchform im Jahr 1983. Und herausgegeben von Medizinern, die sich zur „Ulmer Ärzteinitiative“ zusammengeschlossen hatten. Ihre Angst: dass der Kalte zu einem heißen Krieg werden könnte. Mit Hunderttausenden, wenn nicht gar Millionen von Toten.

Bislang eine reine Dystopie

Mit dem 80-Seiten-Buch (Sammlung Luchterhand, ISBN 3-472-61508-7), von dem es heute nur noch wenige originale Exemplare gibt, protestierten die Mediziner gegen die damalige Politik, die die „Auseinandersetzung mit atomaren Waffen“ aus ihrer Sicht in Kauf nahm. Die Ärzte begründeten ihre Haltung mit dem „Wissen, dass das Gesundheitswesen den Folgen eines Atomkriegs ohnmächtig gegenüberstehen wird“.

Das war vor 40 Jahren. Und ein Atomkrieg blieb bislang eine reine Dystopie. Denn anders, als von den Medizinern in dem „Ulm-Szenario“ beschrieben, in dem die Stadt und weite Teile des Umlands am 14. Juni 1985 durch die Explosion einer Atombombe (genauer: einer Kernfusionsbombe) ausradiert werden, hatte die Geschichte ein Happy End parat: den Fall der Mauer, der Eiserne Vorhang brach auf.

Scharfmacher, die verunsichern

Ein Mann der ersten Stunde bei der „Ulmer Ärzteinitiative“ ist Reinhold Thiel. Der niedergelassene Facharzt für Allgemeinmedizin befindet sich inzwischen im Ruhestand, doch als Warner vor einer nuklearen Eskalation engagiert er sich bis heute. Er ist der Sprecher der Gruppe, die unlängst ihr 40-jähriges Bestehen feierte. Und die sich – nach Jahren des Tauwetters zwischen „dem Westen“ und Russland – plötzlich wieder gebraucht fühlt.

Denn Russland überfiel nicht nur die Ukraine, sondern bespielt seither immer mal wieder auch die Klaviatur des Kalten Krieges. Scharfmacher aus dem Umfeld des Kreml treten öffentlich auf und bringen den Einsatz von Atomwaffen ins Spiel.

Schon mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet

Menschen in Deutschland reagieren darauf bisweilen besonders sensibel. Regelmäßig versammeln sich deshalb auch Mitglieder der „Ulmer Ärzteinitiative“ und andere Unterstützer wieder zu Mahnwachen in der Ulmer Innenstadt. Ihr Motto: „Frieden schaffen ohne Waffen.“ Die Ärzteinitiative gibt zwar Putin die Hauptschuld am Krieg, findet aber: „Amerika und die Nato-Staaten“ seien an der „Vorgeschichte“ nicht unschuldig.

Die Ulmer Mediziner-Vereinigung nimmt für sich in Anspruch, aus berufenem Munde zu sprechen. Bei der Gruppe (www.ippnw-ulm.de) handelt es sich, so betont Reinhold Thiel, um eine Regionalgruppe der internationalen ärztlichen Friedensorganisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War). Und die wurde 1985 für ihre Arbeit immerhin mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Basis waren wissenschaftlich-fundierte Recherchen

Das „Ulm-Szenario“ sorgte damals für Furore, unter anderem der „Spiegel“ berichtete. Die Schrift wurde ernst genommen. Denn ihre Basis waren wissenschaftlich-fundierte Recherchen, vor allem zu den physikalischen Folgen einer Atombomben-Explosion.

Die Verfasser gingen von einem sowjetischen Erstschlag aus, ausgelöst durch einen technischen Fehler im Frühwarnsystem. Doch die Raketen vom Typ SS-20 sind nicht mehr aufzuhalten. Um 10.15 Uhr dann die fiktive Explosion über Ulm.

Gewaltiger Feuerball über der Stadt

Die Autoren rechnen mit einer Sprengkraft von einer Mega-Tonne (1 Mt). Das entspricht einer Million Tonnen des Sprengstoffs TNT, damals die „durchschnittliche Sprengkraft“ einer strategischen sowjetischen Kernwaffe. Zum Vergleich: Die US-Bombe, die Hiroshima zerstörte (6. August 1945) und 100 000 Leben auf einen Schlag auslöschte, hatte eine Sprengkraft von „nur“ 16 000 Tonnen.

Im Ulmer Planspiel bleibt nicht viel übrig von der Geburtsstadt Albert Einsteins. „Im Bruchteil einer Sekunde entsteht ein gewaltiger Feuerball von einigen hundert Metern Durchmesser über der Ulmer City“, schreiben die Verfasser. „Im Innern Millionen, am Rand immer noch mehrere Tausend Grad Celsius heiß.“

Weitere direkte Folgen sind:

  • Alles im Umkreis von 1,5 Kilometern verglüht. „Die ganze Ulmer Innenstadt ist verschwunden. Wo das Ulmer Münster stand, hat die Bombe einen riesigen Krater gerissen.‟
  • Im Umkreis von vier Kilometern fallen alle Gebäude in sich zusammen, werden alle Menschen sofort getötet, auch die in Bunkern. Zahl der unmittelbaren Toten: mehr als 100 000.
  • Im Bereich zwischen vier und sieben Kilometern vom Explosionszentrum entfernt werden immer noch 50 Prozent der Menschen sofort getötet und 40 Prozent schwer verletzt. Die Hälfte der Häuser dort wird durch die Druckwelle zerstört.

77 000 Schwerverletzte allein im Umland

Die Details in dem Buch lesen sich teils schauerlich. Allein um Ulm herum sei von mehr als 77 000 Schwerverletzten auszugehen, die jedoch „keine Hilfe“ zu erwarten hätten. Denn es stünden höchstens 100 unverletzte Ärzte zur Verfügung. Diese Zahl leiten die Verfasser ab aus einem Vergleich mit der Situation in Hiroshima.

Die Lage dort war katastrophal nach der Explosion. Doch mit Blick auf die aktuelle Bewaffnung Russlands und „des Westens“ erstellt Reinhold Thiel eine deprimierende Diagnose: Das war noch „gar nichts“ im Vergleich zu dem, was folgt, sollte einer der Kontrahenten heute auf den Atomknopf drücken.

Das Sterben ginge weiter

Setzt man wieder das „Ulm-Szenario“ voraus – eine Bombe explodiert über der Stadt: „Das gesellschaftliche Leben läge im gesamten süddeutschen Raum am Boden“, sagt Rheinhold Thiel. Die dazu nötigen Sprengstoff-Kapazitäten wären vorhanden. Erst unlängst präsentierte Russland seine neueste Alptraumwaffe: Die Nuklearrakete „Satan 2“. Sie soll bis zu 15 Atomsprengköpfe tragen und ein Land wie Frankreich komplett verwüsten können. Und das nachhaltig.

Die Autoren des „Ulm-Szenarios“ schreiben, dass nicht nur Hitze- und Druckwelle verheerende Auswirken hätten, sondern auch der nukleare Charakter der Bombe. Es würde folgen: der „radioaktive fall-out“, die „Anlagerung radioaktiver Spaltprodukte an Staubpartikeln“. Das Sterben ginge dadurch „weit über das eigentliche Explosionszentrum hinaus“. Im „Ulmer Szenario“ sind je nach Windrichtung vom radioaktiven Niederschlag noch Städte wie Nürnberg und Bayreuth betroffen.

Warum Ulm ein Ziel sein könnte

Warum der Raum Ulm für die Autoren damals – und für Reinhold Thiel und seine Mitstreiter auch noch heute – ein mögliches Ziel eines russischen Angriffs abgeben könnte? Wegen seiner „wichtigen militärischen Einrichtungen und Kommandozentralen“. So befindet sich in Ulm nicht nur ein Nato-Hauptquartier für Nato-Logistik, sondern auch die Rüstungsfirma Hensoldt, der Kanzler Olaf Scholz unlängst einen Besuch abstattete. Firmen, die für die Rüstung wichtige Komponenten liefern, tummeln sich auch am Bodensee: so die Diehl-Gruppe in Überlingen oder MTU in Friedrichshafen.

Aber wie wahrscheinlich ist ein nuklearer Konflikt zwischen Nato und Russland derzeit tatsächlich? Sicher kann diese Frage niemand beantworten. Viele westliche Experten schätzen die Gefahr aber als gering bis nahezu nicht vorhanden ein. Wenngleich die Doomsday Clock, die „Weltuntergangsuhr“, noch nie so kurz vor Mitternacht stand wie dieser Tage. Ende Januar rückten die Zeiger bis auf 90 Sekunden an die Zwölf heran. Hinter der Uhr steckt die Wissenschaftszeitschrift „Bulletin of the Atomic Scientists“.

Den Ärzten wären die Hände gebunden

Die „Ulmer Ärzteinitiative“ trieb die Angst vor dem Weltuntergang vor 40 Jahren dazu, das „Ulm-Szenario für einen Atomkrieg“ in Auftrag zu geben. Eines ihrer Fazite: „Kein Gesundheitswesen ist in der Lage, die Folgen medizinisch zu bewältigen.“ Allein Vorsorge sei sinnvoll, „politische Vorsorge“. Nur sie könne Leben und Gesundheit angesichts der atomaren Kriegsbedrohung schützen. Thiel ergänzt, im Ernstfall gelte, damals wie heute: „Wir Ärzte werden Euch nicht helfen können.“

Stattdessen appelliert er: „Die aktuelle militärische Eskalationsspirale ist ein Irrweg. Stoppt umgehend auf beiden Seiten das Töten und bemüht euch ernsthaft um einen sofortigen Waffenstillstand und Friedens-Verhandlungen.“ In den Ohren des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky dürfte dies klingen nach: Die Ukraine soll aufgeben, die Waffen strecken. Putin hätte gewonnen. Und sähe keinen Grund, warum er nicht noch weitere Länder überfallen sollte.

Waffenmacht der Nato soll abschrecken

Dass es dazu bislang nicht gekommen ist, liegt aus Sicht des Ulmer Nato-Generals Alexander Sollfrank vor allem an der Waffenmacht des westlichen Bündnisses. Sie soll Russland abschrecken. Sollfrank beschrieb diese Maxime unlängst folgendermaßen: „Wir müssen kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen.“ Ein Paradoxon. Dem es aber möglicherweise zu verdanken ist, dass Menschen in Deutschland auch heute noch für Frieden demonstrieren können und keine Angst haben müssen, dass ein Inferno über sie hereinbricht.