Experte über die jungen Täterinnen: „Unrechtsbewusstsein war vorhanden“
Ulm / Lesedauer: 5 min

Der Mord an der zwölfjährigen Luise in Freudenberg (Nordrhein–Westfalen), begangen von zwei Mädchen aus dem Bekanntenkreis des Opfers, bewegt Deutschland.
Die Zwölf– und die 13–Jährige sollen das Mädchen mit mehreren Messerstichen getötet haben. Mit einer Strafe müssen sie nicht rechnen, da sie noch nicht strafmündig sind. Was aber könnte sie zu der Tat veranlasst haben? Darüber haben wir mit dem renommierten Kinderpsychiater Jörg Fegert gesprochen. Er ist Ärztlicher Direktor der Kinder– und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm.
Herr Fegert, was war Ihr erster Gedanke, als Sie von der Tat erfuhren?
Ich war erschüttert, wie wohl jeder andere auch. Erschüttert mit Blick auf das Opfer, die Familie des toten Mädchens, aber auch erschüttert mit Blick auf die Kinder, die das getan haben.
Einige fordern nun, die Altersgrenze für Strafmündigkeit zu senken. Was halten Sie davon?
Jetzt fegt wieder eine Welle der Aufregung durchs Land mit genau solchen Forderungen. Ich warne aber davor, das System aufgrund von Einzelfällen zu ändern. Wir sollten da kühlen Kopf bewahren.
Hätte die Tat verhindert werden können, wenn die beiden Täterinnen hätten damit rechnen müssen, dass sie bestraft werden?
Das finde ich sehr weit hergeholt. Nein, das glaube ich nicht.
Warum nicht?
Morde und Sexualstraftaten sind häufig Beziehungstaten oder Affekttaten, da bremst die Strafandrohung das Verhalten nicht. Die Mädchen hier konnten gar nicht absehen, was die Folgen einer solchen Tat sind, was das für ihr ganzes Leben bedeutet. Deshalb sind sie zurecht strafunmündig.
Aber wussten die Mädchen, dass sie etwas Falsches getan haben?
Dass man nicht Töten darf und was das bedeutet, hat jedes Kind bis ins Alter von zwölf Jahren gelernt. Das wird schon kleinen Kindern beigebracht. Das ist so zentral, dass ein Unrechtsbewusstsein vorhanden ist.
Wie lassen sich solche schockierenden Taten verhindern?
Es gibt jetzt Hinweise, dass auch Mobbing eine Rolle gespielt hat. Ich glaube, wir müssen sehr viel mehr über Prävention und den Umgang miteinander reden, auch über Mobbing in der Schule oder auf dem Schulweg.
Warum werden Kinder überhaupt zu Mördern?
Weil es so wenige Fälle gibt, lässt sich darüber nichts Gesichertes sagen. Bei Jugendlichen aber gibt es, wie bei Erwachsenen, zum Beispiel Affekttaten. Das bedeutet: Jemand, der psychisch eigentlich normal ist, gerät in einen Ausnahmezustand. Und reagiert dann über. Manchmal spielen bei schweren Taten auch psychische Erkrankungen eine Rolle, zum Beispiel Paranoia. Dass sich jemand verfolgt und angegriffen fühlt. Bei Elf– und Zwölfjährigen tritt so etwas aber sehr selten auf. Was eher vorkommt: Dass Kinder selbst mit Gewalt erzogen werden und dann gewalttätig werden.
Welche Rolle spielen Medien, das Smartphone? Schon Kinder konsumieren Gewaltvideos.
Medieneinflüsse spielen sicher eine Rolle, problematische Inhalte können die Gewaltschwelle senken. Aber das erklärt die Tat aus meiner Sicht nicht. Denn wenn wir sehen, wie verbreitet mediale Gewalt ist, müssen wir erkennen, dass im Verhältnis dazu extrem wenig passiert. Ich würde es andersrum sehen als Botschaft an Eltern, die sich Sorgen machen. Fälle wie jener in Freudenberg sind zum Glück so selten, dass man eigentlich nichts Genaues ableiten kann. Also sollte man sich wegen dieses Falls darüber auch keine Sorgen machen.
Sollten Eltern mit ihren Kindern über die Tat sprechen?
Ja, Schulkinder bekommen die Aufregung ja mit. An kleineren Kindern, die noch im Kindergarten sind, rauscht das vielleicht vorbei. Aber Schulkinder haben das sicher alle mitgekriegt und auch schon selbst diskutiert. Diesen Kindern würde ich signalisieren, dass ich gesprächsbereit bin.
Welche Botschaft sollten Eltern ihren Kindern mitgeben bei einem Gespräch?
Dass sie, auch wenn sie ganz schlimm Mist gebaut haben, immer mit Mama und Papa sprechen können. Die wichtigste Beziehung, die unsere Kinder haben, ist die Beziehung zu den Eltern. Diese elementare Beziehung würde ich im Gespräch mit Kindern betonen. Aber dabei klipp und klar sagen, dass man manche Sachen nicht machen darf und diese auch nicht verbergen sollte, weil dann alles nur noch schlimmer wird. Das trifft zum Beispiel auf Sexting zu, also wenn sich Kinder und Jugendliche Sexbilder hin und her schicken. Das geschieht teils schon im vorpubertären Alter.
Müssen die Eltern der beiden Täterinnen mit Konsequenzen rechnen? Gibt es staatliche Vorgaben, wie nun weiter zu handeln ist?
Eigentlich nicht. Die Eltern haben das Sorgerecht, also haben sie das Aufenthaltsbestimmungsrecht und legen fest, wo die Kinder sind. Aber ich gehe davon aus, dass in dem aktuellen Fall die Eltern einer Heimunterbringung zugestimmt haben. Anders wären die Kinder in einem kleinen Dorf wohl auch schwer zu schützen.
Welche Rolle spielt das Jugendamt?
Wenn dieses feststellt, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, kann es einen Antrag auf Entzug der elterlichen Sorge stellen. Man kann auch einschreiten, wenn junge Menschen gefährlich wären für sich und andere und eine Inobhutnahme veranlassen. Ob das im aktuellen Fall vorliegt, lässt sich aber nicht sagen.
Wie geht es weiter mit den Täterinnen?
Ich denke, dass eine psychotherapeutische Betreuung angesagt ist. Man muss versuchen den Mädchen zu helfen.
Werden die Mädchen ihre Tat je verarbeiten können?
Das, was passiert ist, lässt sich nicht ungeschehen machen. Wir können Folgen wie Flashbacks, Erinnerungen und Albträume behandeln und die damit zusammenhängenden Folgestörungen. Aber die Tat wird immer ein Teil ihrer Biografie bleiben.
Ist es ratsam, dass sich Täterinnen und Opferfamilie irgendwann treffen? Kann das helfen, die Tat zu verarbeiten?
Das zu sagen, wäre viel zu früh und ist die Entscheidung der betroffenen Familie. Gemacht wird das bei kleineren Straftaten über den Täter–Opfer–Ausgleich. Aber es braucht immer Betroffene, die da mitmachen wollen. In all dem Schmerz stellt sich diese Frage derzeit, glaube ich, nicht für die betroffene Familie.