Einblick in die Arbeit eines Seelsorgers
Der Bedarf an Seelsorge–Gesprächen wächst — Warum?
Ulm / Lesedauer: 5 min

Selina Ehrenfeld
Die Zahl der Kirchenaustritte steigt, gleichzeitig aber auch der Bedarf eines kirchlichen Angebots: nämlich das der Seelsorge. Mit welchen Problemen werden die Seelsorger dabei konfrontiert — und warum erscheint das Angebot heute wichtiger denn je? Einblick in die Arbeit der Seelsorge im Ulmer Münster.
Abseits von Kanzel und Altar steht ein kleiner Holztisch mit zwei Stühlen im nördlichen Seitenschiff des Ulmer Münsters. Zweimal in der Woche sitzt ein ehrenamtlicher Seelsorger dort und bietet sich ratsuchenden Menschen als Gesprächspartner an.
Seelsorger Axel MantelDass wildfremde Menschen auf mich zukommen und mir ihr Leben ausbreiten, ist ein unheimlicher Vertrauensbeweis.
Das Gespräch ist anonym, erfolgt ohne Anmeldung, die Ehrenamtlichen sind der Verschwiegenheit verpflichtet. Einer dieser Ehrenamtlichen ist Axel Mantel. Obwohl selbst noch berufstätig, möchte er sich als Zuhörer anbieten, Menschen Hoffnung und Trost spenden.

Seit zwölf Jahren ist er qualifizierter Seelsorger — und jedes Mal aufs Neue berührt davon, wie offen die Menschen ihm gegenüber sind. „Dass wildfremde Menschen auf mich zukommen und mir ihr Leben ausbreiten, ist ein unheimlicher Vertrauensbeweis“, sagt der 69–Jährige.
Seelsorger Axel MantelDas Angebot von uns wird rege angenommen, mit wachsendem Zulauf. Es kommen dabei auch etwa muslimische Mitbürger zu uns.
Mantel engagiert sich gerne ehrenamtlich und fühlt sich der Kirche verbunden. Die Seelsorge im Münster aber sieht er als kein rein christliches oder gar kirchliches Angebot an. Denn der Bedarf nach jemandem, der zuhört, sei da — unabhängig von Konfession, Alter und Herkunft.
„Das Angebot von uns wird rege angenommen, mit wachsendem Zulauf. Es kommen dabei auch etwa muslimische Mitbürger zu uns“, erzählt Axel Mantel.
Ehrenamtliche übernehmen verstärkt die Seelsorge
Unter Seelsorge verstand man ursprünglich die geistliche Begleitung eines Menschen in oder durch Krisen. Längst wird die Begleitung aber nicht mehr nur von Geistlichen selbst für Kirchenmitglieder, sondern auch von entsprechend ausgebildeten Ehrenamtlichen für Menschen unabhängig ihrer Religion angeboten.
Bei Unfällen und schrecklichen Ereignissen sind das meist die Notfallseelsorger, die reguläre Seelsorge übernehmen zunehmend Ehrenamtliche, denn sie erfährt seit einigen Jahren vermehrt Zuspruch.
Warum hat der Bedarf an Seelsorge–Gesprächen zugenommen? Peter Schaal–Ahlers, Pfarrer am Ulmer Münster, macht das unter anderem an den Herausforderungen der heutigen Zeit fest. „Corona etwa hat viele Menschen in Bedrängnis gebracht. Sie gehen seither nicht mehr aus dem Haus, haben sich das soziale Leben abgewöhnt, haben sich isoliert“, sagt der Pfarrer.
Peter Schaal–Ahlers, Pfarrer am Ulmer MünsterBei Therapeuten braucht man heute ewig, bis man einen freien Platz erhält.
Die sowieso schon große Problematik der zunehmenden Einsamkeit in der Gesellschaft habe sich dadurch nochmal um einiges verstärkt. Das Bedürfnis des sich Mitteilens, der Aussprache und des Gesprächs sei größer, die Wartelisten bei „den Profis“ entsprechend länger:
„Hauptamtliche Seelsorger schaffen es nicht, den Bedarf an solchen Gesprächen zu decken. Und bei Therapeuten braucht man heute ewig, bis man einen freien Platz erhält“, beschreibt Schaal–Ahlers die Situation. Deshalb setze man im Ulmer Münster auf die Arbeit von Ehrenamtlichen.
Angebot für jeden — ganz im Sinne der Münstertradition
Auch er betont, dass das Angebot einem jeden offen stehe. Ganz in der Tradition des Münsters selbst. „Die Bürger selbst haben das Ulmer Münster damals finanziert, das Münster gehört allen Ulmern. Und deshalb ist die Seelsorge nicht nur ein kirchliches Ehrenamt, es ist ein Dienst an der Gesellschaft“, erläutert der Pfarrer. Das Ziel sei nicht, zu missionieren, sondern zu helfen und zuzuhören.
Neben dem Thema der Einsamkeit, das laut Axel Mantel durchaus auch Menschen in einer Partnerschaft plage, seien es oft Probleme in der Familie oder Ehe, welche die Ratsuchenden beschäftigten.
Peter Schaal–Ahlers, Pfarrer am Ulmer MünsterMänner fressen ihre Probleme eher in sich hinein, können ihren Emotionen und dem, was sie fühlen, oft schwer mit Worten Ausdruck verleihen.
Und auch wenn sowohl Männer als auch Frauen das Angebot der Seelsorge in Anspruch nehmen, gebe es zwischen den Geschlechtern doch einen großen Unterschied.
„Männer fressen ihre Probleme eher in sich hinein, können ihren Emotionen und dem, was sie fühlen, oft schwer mit Worten Ausdruck verleihen. Da sind Frauen oft deutlich sprachgewandter“, so Pfarrer Schaal–Ahlers. Manche Männer setzten das Aufsuchen eines Seelsorgers oder Ratgebers mit einer „riesigen Niederlage“ gleich.
Klimawandel und Druck der sozialen Medien beschäftigen junge Menschen
Während Pfarrer Schaal–Ahlers mit jungen Menschen hauptsächlich durch seine Arbeit an Schulen ins Gespräch kommt, seien es bei der Seelsorge im Münster eher „Menschen ab 40“, die laut Axel Mantel Rat suchen.
Doch auch die junge Generation habe Gesprächsbedarf — und das durchaus auch über fundamentale Fragen des Lebens. Pfarrer Schaal–Ahlers berichtet etwa von einem Gespräch mit einem Mitglied der „Letzten Generation“, in dem es um das Thema Kinder ging.
„Wegen all der Katastrophen, den negativen Schlagzeilen und dem Klimawandel können sich manche Jugendlichen nicht vorstellen, Kinder in die Welt zu setzen. Das beschäftigt sie natürlich“, erläutert der Pfarrer.
Auch der Druck, der durch soziale Medien entstanden ist, da man sich verstärkt mit anderen vergleiche, sei oft Thema im Gespräch mit Jugendlichen.
Seelsorge wird auch heute noch gebraucht
Unabhängig also von Alter, Geschlecht und Religion, betonten Axel Mantel und Peter Schaal–Ahlers, brauche es das Angebot der Seelsorge auch in der heutigen Zeit noch — und das vielleicht sogar mehr denn je.
Es sei heute nicht mehr selbstverständlich, Anteil am Leben eines anderen zu nehmen, so Axel Mantel. Als gebürtiger Ulmer möchte er seiner Stadt, seinen Mitbürgern und „seinem Münster“ etwas zurückgeben — und will deshalb noch viele weitere Jahre als Seelsorger Trost und Hoffnung spenden.