Aus Josie wird Paulino
Ulmer erzählt seine Geschichte als Transmann
Ulm / Lesedauer: 8 min

Selina Ehrenfeld
Ein bewegtes Leben hat Paulino Elias Kirschner mit seinen gerade einmal 22 Jahren schon hinter sich. Von Gewalt in der Kindheit, einem Aufenthalt im Heim und vielen Diskriminierungen kann er erzählen. Und: von vielen Jahren Selbsthass.
Verblasste Narben an seinen Unterarmen erinnern noch an die Verletzungen, die er sich einst selbst zufügte, weil er sich lange Zeit nicht verstand. Denn Paulino Kirschner war einmal ein Mädchen. Bis er sich das aber erst einmal eingestehen und öffentlich machen konnte, war es ein harter Kampf.
Paulino KirschnerDas Verhältnis mit meinen Eltern war schon immer schwierig. Gewalt und Alkohol waren im Spiel und ich wollte weg.
Über den spricht der 22-Jährige heute ganz offen, mit Workshops in Schulen und in diversen politischen Gremien will er für mehr Akzeptanz in der Gesellschaft werben.
Mit elf Jahren wollte er aus seiner Familie geholt werden
Aufgewachsen ist Paulino Kirschner in Singen am Bodensee, in Ulm wohnt er seit 2019. Zwischen diesen beiden Stationen wechselte der 22-Jährige ganze 26 Mal die Schule, weil er so oft umzog. Angefangen hat alles damit, dass er das Jugendamt mit elf Jahren darum bat, ihn aus seiner Familie zu holen.

„Das Verhältnis mit meinen Eltern war schon immer schwierig. Gewalt und Alkohol waren im Spiel und ich wollte weg“, erinnert sich Kirschner.
Zunächst kam er in eine Pflegefamilie, dann in verschiedene Obhutstellen und schließlich in ein Heim ‐ ein Mädchenheim. Für Paulino Kirschner, der damals noch Josie hieß, ein Albtraum. Denn eigentlich spürte der 22-Jährige schon früh, dass er anders war. „Ich wollte nicht mit Puppen spielen oder Kleider tragen. Stattdessen habe ich schon in der zweiten Klasse lieber mit den Jungs Fußball gespielt“, so der Ulmer.
Ein Schlüsselmoment sei für ihn gewesen, als eine Mitschülerin zu ihm sagte: „Mädchen spielen doch gar kein Fußball.“ Paulinos spontane Reaktion („Was wenn ich gar kein Mädchen sein will?“) sollte noch lange in ihm nachwirken.
Alles sagten: Das ist nur eine Phase
Der Einzug ins Mädchenheim änderte für Paulino, damals Josie, dann aber erst einmal einiges. Ein Mädchen in Jungenklamotten habe man dort nicht akzeptieren wollen. Und schon gar nicht derartige Aussagen wie „ich glaube, ich bin ein Junge.“
Stattdessen habe man der damaligen Josie eingeredet: Das ist nur eine Phase. „Ich fühlte mich, wie in einem Theaterstück, in dem ich vorgeben musste, jemand anderes zu sein.“
Das Outing als Transmann lies also noch einige Zeit auf sich warten. Erst mit 18 Jahren, als die damalige Josie aus dem Heim aus- und in die erste WG einzog, reifte allmählich die Überzeugung, nicht ein Mädchen, sondern ein Junge zu sein. Als Josie ihrer damals besten Freundin offenbarte, wie sie eigentlich über sich selbst denkt, drohte ihr diese, die Freundschaft zu beenden, sollte Josie sich wirklich umoperieren lassen.
„Aus Angst, allein dazustehen, habe ich mein Outing also wieder zurückgezogen“, erzählt Kirschner. „Ich verfiel in Depressionen, war sogar eine Zeit lang in der Psychiatrie.“ Mehrfach habe er versucht, sich umzubringen, habe sich selbst Verletzungen zugezogen, weil er überzeugt war: Irgendetwas ist falsch an mir. Erst ein vom Jugendamt gestellter Erziehungsbeistand habe Hoffnung gemacht.
Seiner Sozialarbeiterin sei er noch heute dankbar für die bedingungslose Unterstützung in der Zeit, in der aus Josie Paulino wurde. „Sie hat mir von Anfang an gesagt, dass sie den Weg mit mir geht, egal wie dieser aussieht“, betont Kirschner.

Transsexualität in Deutschland
Wer sich mit dem eigenen biologischen Geschlecht nicht identifizieren kann und dem anderen Geschlecht zugehörig fühlt, gilt als transsexuell. Betroffene können mit geschlechtsangleichenden Operationen, also einer Geschlechtsumwandlung, ihren Körper verändern lassen.
Rund 2600 Menschen haben dies im Jahr 2021 in Deutschland getan, laut Statistischem Bundesamt waren darunter weit mehr Frauen als Männer. Die Mehrheit der Eingriffe, so berichtet die Plattform Statista, sind Menschen unter 30 Jahren. Die Zahl der Eingriffe ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, 2018 etwa waren es noch rund 1800 Menschen, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen haben.
Eine Geschlechtsumwandlung ist in Deutschland jedoch nicht einfach ohne Weiteres möglich. Einer Hormontherapie kann man sich erst ab 16 Jahren unterziehen, einer Operation wird erst ab 18 Jahren empfohlen. Zudem ist bei Jugendlichen eine psychotherapeutische Behandlung nötig, um auszuschließen, dass es sich um einen dauerhaften und ernstgemeinten Wunsch handelt. Erwachsene benötigen zwei Gutachten, die das bestätigen.
Jedoch lassen bei weitem nicht alle Menschen, die sich als transsexuell bezeichnen, ihr Geschlecht operativ angleichen. Viele belassen es bei einer Hormontherapie. Die genaue Anzahl der Transsexuellen in Deutschland ist unbekannt, immer noch haben viele Transsexuelle Angst vor Diskriminierung und outen sich nicht öffentlich. Manche Schätzungen sprechen von rund 31.000 Menschen, die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität spricht jedoch von bis zu 100.000 Trans-Personen.
Im März 2021 reichte die damalige Josie zunächst ihren Antrag auf Namensänderung beim Amtsgericht Ulm ein. Nach diversen Gutachten und einem Gespräch mit dem Richter erging im Dezember 2021 dann der Beschluss, aus Josie wurde Paulino Elias Kirschner.
Erst veränderte sich der Geruch, dann die Stimme
Dann begann Paulino eine Hormontherapie, seit knapp zwei Jahren lässt er sich regelmäßig Testosteron spritzen. Der Körper einer Frau veränderte sich Woche für Woche mehr hin zu einem männlichen Körper. „Zunächst war es der Geruch, ich habe wohl ziemlich gestunken“, sagt der 22-Jährige und lacht.

Als nächstes veränderte sich die Körperbehaarung, dann die Stimme. Nach vier Monaten klang Paulino wie ein „echter Mann“. Auch die sexuelle Orientierung änderte sich durch das zugeführte Testosteron: „Früher konnte ich mir als Partner sowohl Frauen als auch Männer vorstellen, jetzt bin ich sicher, dass ich nur auf Frauen stehe“, so Kirschner.
Im Mai wurden dem 22-Jährigen an der Frauenklinik in Ulm das Gewebe und Haut der Brust entfernt und an eine männliche Brust angeglichen.

Umstrittenes Selbstbestimmungsgesetz
Das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) sieht vor, dass jeder Mensch in Deutschland künftig selbst seinen eigenen Geschlechtseintrag und Vornamen ändern kann, ohne dass umfangreiche Gutachten und eine gerichtliche Entscheidung nötig ist - wie es aktuell der Fall ist. Das Bundeskabinett hat das Gesetz auf den Weg gebracht, nun muss der Bundestag zustimmen.
Das Selbstbestimmungsgesetz soll das bisher geltende Transsexuellen-Gesetz ersetzen, das vom Bundesverfassungsgericht aufgrund mancher Bestimmungen mehrfach für verfassungswidrig erklärt wurde. Kritiker befürchten, dass das Gesetz Jugendlichen operative und hormonelle Eingriffe erleichtert, die sie aus einem Affekt heraus wollen. Psychologen befürchten zudem eine steigende Zahl derjenigen, die ihre Entscheidung einer Geschlechtsumwandlung bereuen.
Nur einen Wunsch kann er sich so schnell wohl nicht erfüllen: „Ich würde total gerne mal wieder in einer Fußballmannschaft spielen. Es darf mich aber kein Team bei sich aufnehmen, denn meine Hormontherapie fällt unter Doping.“ Und unabhängig der Hormone: Bis Paulinos Körper ausschließlich „männlich“ ist, wären noch einige Eingriffe nötig.
Wie viel davon der 22-Jährige noch machen möchte, lässt er derzeit offen. „Was die Hormone psychisch bewirken, darf man nicht unterschätzen. Zu Beginn meiner Hormontherapie etwa war ich so aggressiv, dass ich gar nicht wusste, wo ich mit der Energie hin sollte“, erzählt Paulino. An anderen Tagen sei er so erschöpft gewesen, dass er drei Tage im Bett verbringen musste.
Engagement in politischen Gremien
Doch Paulino Krischner ist froh, seinen Weg gehen zu dürfen. Inzwischen spricht er ganz offen über das Thema der Geschlechtsumwandlung, bietet Workshops in Schulen an, engagiert sich in politischen Gremien in Ulm und unterhält seine zahlreichen Follower bei Instagram mit seiner Geschichte.
„Das Thema ist groß und aktuell. Wer soll die Fragen, die Menschen darüber haben, beantworten, wenn nicht ich als Person, die betroffen ist“, so Kirschner, der kürzlich eine Ausbildung als Jugend- und Heimerzieher begonnen hat.
Paulino KirschnerIch möchte über das Thema aufklären und zeigen: Der Weg ist nicht einfach.
Für seine Posts und Workshops erhält der Ulmer viele positive Rückmeldungen ‐ sowohl von Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation wiederfinden, als auch jenen, die bisher gar nichts mit Transpersonen anfangen konnten. Doch es gibt auch Anfeindungen.
„Ich habe festgestellt, dass Religion dabei ein großes Thema ist, weshalb Leute krass auf mich reagieren. Mir wurden dann schon Sätze an den Kopf geworfen wie: Dich sollte man umbringen, oder: Dass so etwas wie du frei herum laufen darf, gehört verboten.“ Bei Kundgebungen der Queer-Bewegung in Ulm habe man Bierflaschen auf ihn geworfen.
Doch Paulino Kirschner will sich von derartigen Kommentaren nicht von seinem Weg abbringen lassen. „Ich möchte über das Thema aufklären und zeigen: Der Weg ist nicht einfach“, so der 22-Jährige.