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Wenn die Last erdrückend wird

Jetzt reicht’s: Bürgermeister reden nach Rücktritt eines Kollegen Klartext

Ehingen / Lesedauer: 9 min

Der Oberdischinger Bürgermeister Friedrich Nägele tritt zurück. Und erntet viel Verständnis für seine Klagen über Anfeindungen, Wahnsinns-Bürokratie und eine Flut an Aufgaben.
Veröffentlicht:17.11.2023, 17:00

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Hohe Wellen hat die Rücktrittsankündigung von Oberdischingens Bürgermeister Friedrich Nägele in dieser Woche geschlagen. Amtskollegen sind überrascht, äußern aber Verständnis für den Schritt ‐ nicht zuletzt, weil sie die angeführten Gründe in ähnlicher Form auch immer wieder erleben. Mitglieder des Gemeinderats bedauern die Entscheidung.

„Der Bürgermeister hat Thomas Oswald und mich als seine Stellvertreter am Dienstag in der Vorbesprechung der Gemeinderatssitzung informiert“, berichtet Werner Kreitmeier auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“. Beide seien von der Entscheidung sowohl überrascht als auch betroffen gewesen.

Die Bürokratie ist der Wahnsinn.

Werner Kreitmeier

„Wir sind bestens miteinander ausgekommen“, macht Kreitmeier klar. Er bezeichnet Nägele als „Schaffer“, der sich in seiner bislang zehnjährigen Dienstzeit ganz für die Gemeinde eingesetzt habe: „Er hat sehr viele Zuschüsse generiert und schwierige Themen gemeistert.“

Kreitmeier nennt unter anderem die Errichtung des Baugebiets Oberdischingen Nord mit schwierigen Grundstücksverhandlungen oder die Problematik aufgeplatzter Quellen auf der „Schießmauer“.

Ratsmitglieder zeigen Verständnis

Man müsse die Entscheidung akzeptieren und als weiteren „Warnschuss“ verstehen, dass es mit der Arbeitsbelastung von Bürgermeistern so nicht weitergehen könne, meint Kreitmeier: „Die Bürokratie ist der Wahnsinn. Es will ja was heißen, wenn selbst sonst so besonnene Menschen wie die Mitglieder des Gemeindetags oder Firmeninhaber sagen, dass sie so nicht weitermachen wollen. Das muss in der großen Politik doch irgendwann ankommen. Wir fahren das ganze System an die Wand.“

Seit Corona drehen alle durch. Man wird aggressiv und hat riesige Ansprüche.

Werner Kreitmeier

Auch die zunehmenden persönlichen Anfeindungen, die Nägele beklagt, seien belastend. „Seit Corona drehen alle durch. Man wird aggressiv und hat riesige Ansprüche“, findet Kreitmeier, der weiß, wovon er spricht: „Ich erlebe das alles auch selbst. Im Museumsverein hat man auch nicht nur Gönner.“

Als respektlos bezeichnet er Aktionen wie jene bei der Wiederwahl Nägeles vor zwei Jahren, als sich ein Oberdischinger Bürger „aus einer Bierlaune heraus“ als inoffizieller Gegenkandidat ins Spiel gebracht und etliche Stimmen eingeheimst hatte. „Sowas stiftet Unfrieden und schadet letztlich auch der Gemeinde“, sagt Kreitmeier.

Nicht bestätigen mag der 73-Jährige, seit rund 30 Jahren Mitglied des Oberdischinger Gemeinderats, den von Nägele angeführten Vertrauensverlust von Teilen des Gremiums. „Auf keinen Fall“ gebe es Strömungen gegen den Bürgermeister. „Natürlich ist man nicht immer einer Meinung. Aber das muss auch nicht sein“, sagt Kreitmeier.

Die, die was schaffen, haben es in unserem Land immer schwerer, und wer nichts schafft, hat es immer leichter.

Karl Hauler

Toni Werner, seit 20 Jahren im Gemeinderat und aktuell einzige Frau, möchte sich zur Grundstimmung im Rat nicht äußern. Sie betont aber: „Ich stehe voll hinter Herrn Nägele. Er leistet sehr gute Arbeit und es ist sehr schade für die Gemeinde Oberdischingen, dass er aufgibt.“

Es fallen Schlagworte wie mangelnder Respekt und allgemeine Verrohung

Volles Verständnis für Nägeles Klage über den Auf- statt Abbau von Bürokratie äußert sein Rottenacker Kollege Karl Hauler, zugleich Vertreter des Alb-Donau-Kreises im baden-württembergischen Gemeindetag. „Die, die was schaffen, haben es in unserem Land immer schwerer, und wer nichts schafft, hat es immer leichter“, findet Hauler.

„Schon seit Jahren“ kämpften die Kommunen vergeblich, dass sich an der Aufgabenflut etwas ändere: „Die Gemeinden sind personell gar nicht mehr dafür ausgerüstet. Erst jüngst in der Sitzung des Landesvorstands haben wir darüber wieder gesprochen.“

Positiv, aber auch mit Skepsis habe man die jüngsten Aussagen von Winfried Kretschmann zur Kenntnis genommen, wonach der Ministerpräsident die Problematik erkannt und gesagt habe, da müsse man ran. „Auf manchen Ebenen ist es angekommen, dass es kein ,Weiter so’ gibt“, meint Karl Hauler. „Aber am Schluss zählen Ergebnisse.“

Es gibt keinen Respekt mehr vor Bürgermeistern, Lehrern, Polizisten oder auch Pfarrern.

Karl Hauler

Ein gesellschaftliches Problem seien die zunehmenden Anfeindungen, denen nicht nur die Rathauschefs ausgesetzt seien, ergänzt Hauler: „Es gibt keinen Respekt mehr vor Bürgermeistern, Lehrern, Polizisten oder auch Pfarrern. Spätestens seit Corona leiden wir unter einer allgemeinen Verrohung.“

Er selbst halte das noch irgendwie aus, wobei es darauf ankomme, von wem solche Anfeindungen kommen. „Wenn ich Feinde habe, tu ich mir immer schwer“, sagt Karl Hauler. Im Übrigen schätze er Friedrich Nägele sehr: „Was er sagt, hat Hand und Fuß. Drum tut es mir richtig weh, dass so ein guter Kollege die Segel streicht.“

Auch der Landrat nimmt kein Blatt vor den Mund

Landrat Heiner Scheffold wird bei der Sache gewohnt deutlich: „Ich bedauere sehr, dass wir mit Friedrich Nägele einen sehr guten, menschlich integren und kompetenten Bürgermeister im Alb-Donau-Kreis verlieren. Diese Entscheidung macht nachdenklich. Sie ist Herrn Bürgermeister Nägele, den ich immer als sehr engagiertes Gemeindeoberhaupt wahrgenommen habe, sicher nicht leichtgefallen und sollte deshalb respektiert werden“, sagt Scheffold.

Ganz allgemein häufen sich verbale Angriffe und auch tätliche Gewaltakte gegenüber Amtsträgerinnen und Amtsträger sowie gegen Rettungs- und Einsatzkräfte.

Heiner Scheffold

Er betont: „Das Amt des Bürgermeisters ist sehr anspruchsvoll und komplex, da es viele Funktionen und Zuständigkeiten vereint. Leider beobachten wir seit ein paar Jahren, dass dieser wichtige Posten immer schwerer zu besetzen ist beziehungsweise sich Personen nicht mehr zur Wiederwahl stellen oder sogar frühzeitig ausscheiden ‐ und zwar nicht wegen der Fülle der Aufgaben, sondern weil der Ton ihnen gegenüber immer respektloser und rauer wird. Gleichzeitig sind die Diskussionen, die sie führen müssen, immer öfter von Emotionalität und Egoismus geprägt. Das erschwert diesen Beruf, der für viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister ursprünglich eine Berufung war, immens und kann sehr belastend sein“, so der Landrat.

Scheffold weiter: „Die zunehmenden Anfeindungen betreffen aber nicht nur Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Ganz allgemein häufen sich verbale Angriffe und auch tätliche Gewaltakte gegenüber Amtsträgerinnen und Amtsträger sowie gegen Rettungs- und Einsatzkräfte. Das ist nicht nur inakzeptabel, sondern auch eine bedrohliche Entwicklung für unsere Gesellschaft.

Diese Personen sind Schlüsselfiguren, wenn es um die Lebensqualität und das Gemeinwohl geht. Geht es so weiter, findet sich irgendwann niemand mehr, der sich in den Kommunen für die Bürgerinnen und Bürger und eine positive Entwicklung einsetzt oder bei Unfällen und Bränden zur Hilfe eilt. Das sollte allen Bürgerinnen und Bürgern bewusst sein.“

Was der OB vermisst

Ehingens Oberbürgermeister Alexander Baumann kennt Nägele ebenfalls schon lange. „Ich bedaure diese Entscheidung sehr, das habe ich ihm auch so gesagt. Ich kenne ihn von unserer gemeinsamen Arbeit in der Verwaltungsgemeinschaft und Kreistag, wir sind ja in der gleichen Fraktion. Er ist ein besonnener Kollege, der stets überlegt handelt, sich kümmert. Ich schätze ihn daher auch sehr als Mensch und bin mir sicher, dass er sich diese Entscheidung gut überlegt hat“, erklärt Baumann, der auch bei seiner täglichen Arbeit zunehmend Respektlosigkeit und fehlende Toleranz spürt.

Es ist tragisch für ihn und tragisch für Oberdischingen. Die Gemeinde verliert einen Bürgermeister, bei dem es nicht leicht werden wird, ihn zu ersetzen.

Oliver Klumpp

„Das habe ich schon vor Jahren beim Weihnachtsinterview der Schwäbischen Zeitung gesagt. Und es ist nicht besser geworden“, so Baumann, der ganz klar sagt: „Das Ansinnen von mir und meinen Mitarbeitern ist es doch, dass die Stadt nicht stehen bleibt und sich weiterentwickelt. Das ist der Maßstab unseres Handelns. Unser oberstes Ziel sind aber nicht die Individualinteressen, sondern das Allgemeinwohl“, betont der OB, der sich gerne „in der Sache“ austauscht.

„Mit wehenden Fahnen gegen die Wand“

Als „traurig und tragisch“ bezeichnet Oliver Klumpp, Bürgermeister von Griesingen, die Entscheidung seines VG-Kollegens. „Es ist tragisch für ihn und tragisch für Oberdischingen. Die Gemeinde verliert einen Bürgermeister, bei dem es nicht leicht werden wird, ihn zu ersetzen. Wir sind nicht nur Bürgermeister-Kollegen, sondern auch Freunde. Sein Rücktritt bedeutet auch einen schweren Verlust für den Alb-Donau-Kreis“, sagt Klumpp.

Dass sich die Gesellschaft wandle, weg von der Wir-Gesellschaft, hin zur Ich-Gesellschaft, spüre man eben auch oder vor allem auf den Rathäusern. „Das merke ich stellenweise auch hier.

Wobei ich wirklich froh bin, dass Anfeindungen oder gar Drohungen hier in Griesingen die absolute Ausnahme sind“, sagt Klumpp und betont: „Wir sind wirklich auch nur Menschen.“ Gerade auch das Thema Bürokratie beschäftige Klumpp sehr. „Wenn ein Formular abgeschafft wird, kommen dafür fünf neue dazu. Wir verwalten uns selber. Gerade das Rathaus ist der Ort der Wirklichkeit, wir spüren hier alles, was von Bund und Land beschlossen wird. Wir sind das Ende der Nahrungskette“, so Klumpp.

Er sagt: „Wir fahren gerade in allen Bereichen mit wehenden Fahnen gegen die Wand. Alle spüren das, ein Umdenken findet aber nicht statt.“ Den Rücktritt von Nägele bezeichnet Klumpp zudem als ein „Warnsignal für die Gesellschaft, wenn solche gute Leuten sagen, ich mag nicht mehr“.

Braun: das große Problem der kleinen Kommunen

Auch Andreas Braun, Bürgermeister von Öpfingen, bedauert die Entwicklung in seiner Nachbargemeinde: „Friedrich Nägele schätze ich fachlich wie menschlich sehr. Uns verbindet eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit und ein fachlich unkomplizierter Austausch. Wir haben uns immer gegenseitig Unterstützung gegeben. Das ist sehr wertvoll.“

Umso mehr stimme es ihn nachdenklich, wenn so ein Kollege zu einer solchen Entscheidung komme. Die Gründe könne er nicht konkret beurteilen, allerdings sei es laut Braun nicht zu unterschätzen: „Je kleiner eine Kommune, umso größer ist die Bandbreite an Themen und Herausforderungen, die man zu meistern hat.“

Die Verantwortung für eine Gemeinde ist natürlich auch fordernd ‐ und das kann in manchen Momenten zur Last werden.

Andreas Braun

Das Amt des Bürgermeisters sei reizvoll, weil man einen großen Gestaltungsspielraum habe. Dieser werde durch regulatorische Dinge geschmälert. „Und wie mir erfahrenere Kollegen berichten, nimmt das zu“, sagt Andreas Braun, der dies selbst vor allem im schier endlosen Kampf um Richtlinien für die Bauplatzvergabe im Baugebiet „Halde“ zu spüren bekommt.

+ + Hier geht es zum Kommentar von Reiner Schick + +

Er wolle nicht über sein Amt jammern, betont der Öpfinger Bürgermeister, die Herausforderungen freilich nähmen nicht ab. Braun urteilt diplomatisch: „Die Verantwortung für eine Gemeinde ist natürlich auch fordernd ‐ und das kann in manchen Momenten zur Last werden.“

Ein sorgenvoller Blick nach vorne

Entsprechend bang blickt nun Oberdischingens stellvertretender Bürgermeister Werner Kreitmeier nach vorn. Er hoffe, dass sich die Wogen glätten und es bis zur Neuwahl und zur Kommunalwahl im Frühjahr gelinge, die Ämter wieder in ein besseres Licht zu rücken: „Man kann viel machen und gestalten. Man darf nicht alles negativ sehen. Sonst wird es schwierig, Bürgermeister- und Gemeinderatskandidaten für Oberdischingen zu finden, weil sich jeder fragt: ,Muss ich mir das antun?’“