Sie müssen ohne Bezugsperson zurechtkommen

Leser besorgt: immer mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Ehingen

Ehingen / Lesedauer: 7 min

Eigentlich sollten in der Gemeinschaftsunterkunft keine Minderjährigen wohnen. Das Landratsamt nimmt Stellung - und wendet sich mit einer Bitte an die Bevölkerung.
Veröffentlicht:18.09.2023, 17:30

Von:
  • Reiner Schick
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Vor einem Jahr hat der Alb–Donau–Kreis in Ehingen in der Albert–Einstein–Straße eine neue Gemeinschaftsunterkunft für geflüchtete Menschen in Betrieb genommen. Anders als vorgesehen, leben dort mittlerweile auch unbegleitete Minderjährige. „Vermehrt sehe ich die jungen Burschen in Ehingen planlos umherirren“, schildert ein SZ–Leser in einer Mail an unsere Redaktion. Das Landratsamt hat dazu jetzt Stellung genommen.

Ich habe versucht, ihm zu helfen, als er ziemlich aufgelöst und mit Tränen überströmt an der Straße stand.

Leser

„Mein Herz schmerzt, wenn ich solche Zustände sehe“, schreibt der Leser. „Mit großer Sorge“ nehme er wahr, dass immer mehr junge Menschen ohne Eltern in der Gemeinschaftsunterkunft wohnen. Sie seien „vielleicht 15 oder 16 Jahre alt“ und ohne Elternteil in der Stadt unterwegs. „Sie kennen sich nicht aus und haben auch keine feste Bezugsperson.“ Laut seiner Recherche sei es auch nicht erlaubt, dass man alleine ohne Eltern in einer Flüchtlings–Gemeinschaftsunterkunft wohnt. „Sie leben dort mit vielen Menschen auf engem Raum. Kommen mit Alkohol, Drogen oder anderen Schwierigkeiten in Berührung.“

Vor einigen Tagen habe er in der Nähe einen Jungen getroffen, der kein Deutsch, Englisch oder Französisch gesprochen habe: „Ich habe versucht, ihm zu helfen, als er ziemlich aufgelöst und mit Tränen überströmt an der Straße stand. Leider erfolglos! Ein anderer Junge hat uns gesehen und mir erklärt, dass sie zusammen im Heim wohnen. Er nahm den Jungen mit. So was darf doch nicht sein. Das sind doch noch Kinder.“

Landratsamt bestätigt vorübergehende Unterbringung der Jugendlichen

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt auf seiner Homepage über den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Menschen, dass diese „zunächst durch das vor Ort zuständige Jugendamt in Obhut genommen“ und dann „bei einer geeigneten Person oder in einer geeigneten Einrichtung“ untergebracht werden sollen: „Geeignete Personen können Verwandte oder Pflegefamilien sein, geeignete Einrichtungen sind in der Regel sogenannte Clearinghäuser, die auf die Betreuung von Unbegleiteten Minderjährigen spezialisiert sind, oder Jugendhilfeeinrichtungen. Sie sollen ein stabiles Aufwachsen der jungen Menschen sicherstellen.“

Die Jugendämter müssen die jungen Menschen oft sehr kurzfristig aufnehmen.

Daniela Baumann

Daniela Baumann, Pressesprecherin des Landratsamts Alb–Donau–Kreis, hat der „Schwäbischen Zeitung“ auf Anfrage bestätigt, dass man in der Ehinger Gemeinschaftsunterkunft unbegleitete Minderjährige vorübergehend untergebracht hat und erklärt ausführlich die Hintergründe einer komplexen Thematik, die „uns sehr wichtig ist und unser Jugendamt voraussichtlich weiterhin sehr beschäftigen wird“:

Wie stark ist aktuell der Zustrom Unbegleiteter Minderjähriger Ausländer (UMA) in Baden–Württemberg?

Die Zahl ist stark angestiegen. Ende August dieses Jahres waren mit rund 4.500 Kindern und Jugendlichen mehr als doppelte so viele von ihnen im Land untergebracht als zum selben Zeitpunkt 2022. Die Zahl der Neuzugänge erhöhte sich in den vergangenen Monaten stetig. Während im Juli noch 550 junge Menschen zur landesweiten Verteilung gemeldet wurden, waren es im August bereits 837 Personen.

Wie ist die Verteilung geregelt?

Die Kinder und Jugendlichen werden zunächst von dem Jugendamt vorläufig in Obhut genommen, in dessen Zuständigkeitsbereich sie erstmalig aufgegriffen wurden oder um Hilfe ersucht haben. Diese Inobhutnahmen geschehen zu jedem Zeitpunkt, tagsüber wie auch nachts, an Werk–, Sonn– und Feiertagen gleichermaßen. Die Jugendämter müssen die jungen Menschen oft sehr kurzfristig aufnehmen.

Vergleichbar mit der Zuteilung von volljährigen Geflüchteten über die Landeserstaufnahmestellen werden die jungen Menschen anschließend entweder dem Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden–Württemberg (KVJS) nach dem Königsteiner Schlüssel zur Weiterverteilung gemeldet oder verbleiben dauerhaft in dem Stadt– beziehungsweise Landkreis. Entscheidend dafür ist, ob die Kreisverwaltung, welche die vorläufige Inobhutnahme durchgeführt hat, oberhalb oder unterhalb ihrer Aufnahmequote liegt.

Was bedeutet das für den Alb–Donau–Kreis und im speziellen Fall für Ehingen?

Für unser Jugendamt bedeutet das faktisch, dass es einerseits oft kurzfristig unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Obhut nehmen und unterbringen muss, andererseits monatlich weitere junge Menschen aufnehmen muss, die über die landesweite Zuteilung in den Alb–Donau–Kreis kommen.

Das stellt uns als Kreisverwaltung in Zeiten von Wohnungs– und Fachkräftemangel vor die anspruchsvolle Aufgabe, stetig neue Unterbringungs– und Betreuungsmöglichkeiten zu schaffen. Weil die regulären Angebote im Hilfsnetzwerk durch den starken Zustrom in den vergangenen Monaten landesweit regelmäßig aus– oder sogar überlastet waren, hat der KJVS die Regeln zur Einrichtung von Notfallunterbringungen vereinfacht.

Auf Basis dieser vereinfachten Regeln wurde eine solche Notfallunterbringung mit fünf Plätzen in Ehingen in der Gemeinschaftsunterkunft (GU) in der Albert–Einstein–Straße eingerichtet, um die Jugendlichen nicht in Turnhallen unterbringen zu müssen — dies ist in anderen Stadt– und Landkreisen bereits der Fall — und ein Mindestmaß an Kinderschutz gewährleisten zu können. Aktuell sind dort drei Jugendliche untergebracht. Die Unterbringung dort ist nur vorübergehend, bis die jungen Menschen Platz in einer regulären Einrichtung der Jugendhilfe finden.

Wie werden die Jugendlichen in der Ehinger GU betreut?

Die GU ist mit einem Sicherheitsdienst ausgestattet, der den jungen Menschen rund um die Uhr als Ansprechmöglichkeit zur Verfügung steht. Zusätzlich werden die Jugendlichen jeweils durch einen Erziehungsbeistand und einen Vormund betreut, die sich als tägliche Ansprechpartner um ihre Belange kümmern.

Das Jugendamt sucht dringend nach geeigneten Immobilien und Wohnungen für die Unterbringung von minderjährigen Geflüchteten.

Daniela Baumann

Wie ist die weitere Entwicklung einzuschätzen?

Durch den Wechsel von einem landesinternen zu einem bundesweiten Verteilsystem von vorläufig in Obhut genommenen UMA (die SZ berichtete) ist im Alb–Donau–Kreis nach aktuellem Stand, zunächst bis zum Jahresende, nicht mit weiteren Zuweisungen von minderjährigen Geflüchteten zu rechnen.

Dennoch kann es immer vorkommen, dass hier UMA aufgegriffen werden. Auch zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre, dass sich die Zuteilung, Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten dynamisch entwickelt. Deshalb kann es sein, dass wir auch in den kommenden Monaten auf die Notfallplätze in der GU zurückgreifen müssen.

Gibt es ausreichend Betreuungsplätze und Wohnraum im Alb–Donau–Kreis?

Wir bemühen uns intensiv, die Betreuungsplätze weiter auszubauen. Das Jugendamt sucht dringend nach geeigneten Immobilien und Wohnungen für die Unterbringung von minderjährigen Geflüchteten. Die Betreuung der jungen Menschen wird in der Regel von Trägern der Jugendhilfe übernommen.

Deshalb unser Aufruf: Sollten Sie als Bürgerin und Bürger des Alb–Donau–Kreis eine Immobilie besitzen, bei der Sie sich eine solche Nutzung durch den Landkreis oder einen Träger der Jugendhilfe vorstellen können, dann wenden Sie sich bitte an das Postfach [email protected]. Die Mietobjekte sollten prinzipiell dafür geeignet sein, zwischen drei und sechs Personen in einem jeweils eigenen Zimmer unterbringen zu können. Eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr wäre wünschenswert. Ergänzende Fragen zu den räumlichen Anforderungen und dem weiteren Ablauf beantworten wir gerne unter dem genannten Postfach.

Was können einzelne Bürger tun, um Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu helfen?

Wir suchen engagierte Menschen, die sich vorstellen können, eine ehrenamtliche Vormundschaft für diese Kinder und Jugendlichen zu übernehmen. Als gesetzlicher Vertreter entscheidet der Vormund, was normalerweise die Eltern entscheiden, steht dem jungen Menschen zur Seite, unterstützt ihn in allen wichtigen Lebensbereichen und vertritt seine Interessen, während er oder sie in einer Einrichtung der Jugendhilfe oder in einer Pflegefamilie lebt.

Das wäre eventuell auch eine tolle Möglichkeit für besorgte Leserinnen oder Leser, sich weiterhin für das Wohlergehen eines solchen Kindes oder Jugendlichen einzusetzen. Interessierte können sich per E–Mail an [email protected] wenden.


Zahlen und Fakten zur Gemeinschaftsunterkunft in der Albert–Einstein–Straße

In der GU Ehingen in der Albert–Einstein–Straße sind aktuell außer den drei unbegleiteten Minderjährigen weitere 93 Personen untergebracht. Die Bewohnerinnen und Bewohner kommen vor allem aus der Türkei, aus Syrien, aus Afghanistan, aus der Russischen Föderation und aus dem Iran. Die dort untergebrachten Personen werden von Montag bis Freitag von einem interdisziplinären Team — bestehend aus Sozialbetreuung, Verwaltung und einem Hausmeister — betreut. Zusätzlich ist ein Sicherheitsdienst rund um die Uhr vor Ort (tagsüber eine Person, nachts zwei Personen), der regelmäßig Kontrollgänge durchführt. Es befinden sich sowohl Familien mit kleineren Kindern als auch Einzelpersonen dort.