Fußballspiel

Tipp-Kick: Kult aus Schwenningen

Villingen-Schwenningen / Lesedauer: 7 min

Das mechanische Fußballspiel Tipp-Kick hält sich tapfer gegen die Konkurrenz der Videospiele – vor allem in WM- und EM-Jahren
Veröffentlicht:27.04.2018, 19:02

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  • Schwäbische.de
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Das mechanische Fußballspiel Tipp-Kick hält sich tapfer gegen die Konkurrenz der Videospiele. Vor allem in WM- und EM-Jahren ist Tipp-Kick erfolgreich.

Die Vitrine steht gleich am Eingang des Unternehmens, als Blickfang. Man könnte sie auch einen Schrein nennen. Wie Trophäen werden die Tipp-Kick-Spiele der vergangenen Jahrzehnte präsentiert: Die Kartons mit dem fetzigen Anstrich, alles in Fußballgrün gehalten. Dann die Miniatur-Spieler-Figuren aus Blech, Blei und Zink, so groß wie eine Zigarettenschachtel – mit dem Druckknopf über dem Kopf, der das rechte Schussbein in Gang setzt. „Es ist wie ein Blick in die eigene Kindheit“, entfährt es dem Besucher. Da sagen Mathias und Jochen Mieg, die beiden Cousins und Inhaber des kleinen Unternehmens in Villingen-Schwenningen, wie aus einem Mund: „Das sagen viele.“

Früher in jedem Jungenszimmer

Seltsam altmodisch wirkt das Tipp-Kick-Spiel im Vergleich zu heutigen Videogames und Spielekonsolen. Wie ein Überbleibsel aus einer entfernten Vergangenheit. Alles mechanisch, nichts läuft digital – wie aus der Zeit gefallen erscheinen die Kicker in ihren roten, blauen und gelben Trikots. Fast 100 Jahre ist das Spiel alt. „Im Grunde genommen hat sich nichts verändert“, meint der Unternehmer Mathias Mieg.

In den 1950er- und 1960er-Jahren gehörte das Miniatur-Fußballspiel beinahe in jedes Kinderzimmer – zumindest für Jungs. Gespielt wurde an Regentagen, wenn richtiges Kicken draußen nicht ging. Gespielt wurde an Feiertagen, an Weihnachten etwa, wenn gar ein neues Tipp-Kick-Spiel unter dem Baum lag. Rund einen Meter misst das Spielfeld, die grüne Matte lässt sich bequem auf jedem Esstisch ausrollen, man braucht nur einen Gegner, und schon können zwei Mann über Stunden hinweg ihre Spieler aufs gegnerische Mini-Tor schießen lassen – bis der Esstisch wieder anderweitig gebraucht wird.

Gemeinsame Leidenschaft zum Mini-Kick

Termin im Ortsteil Schwenningen : Der Sitz des Unternehmens, das offiziell Edwin Mieg OHG heißt, ist nicht sonderlich beeindruckend. Ein einstöckiges Gebäude im Gewerbegebiet, ein eher gesichtsloser Bau mit Flachdach. Die beiden Miegs bitten in einen kleinen Empfangs- und Konferenzraum. Ein Tisch, ein paar Stühle, eine Kaffeemaschine – alles ist einfach, funktional, sparsam.

„Bitte schreiben Sie nicht, dass wir Brüder sind“, ist das Erste, was die beiden Unternehmer zu sagen haben. „Unsere Väter waren Brüder“, sagen die Cousins. Bereits die Väter der beiden hätten das Unternehmen gemeinsam geführt. Mathias Mieg, der Ältere ist 56 Jahre alt, ein großer, massiger Mann mit sehr wenig Haaren. Vetter Jochen ist ein Jahr jünger, ein eher drahtiger, beinahe schmächtiger Mann mit vollem Haarschopf. Gemeinsam haben sie die Leidenschaft zum Mini-Kick. „Schon in der Sandkastenzeit war uns beiden klar, dass wir die Firma eines Tages übernehmen werden“, sagt der ältere Mieg und der Jüngere nickt.

1921 erfunden

Wie es bei Familienunternehmen mitunter ist: „Tipp-Kick war das große Thema am Küchentisch, das ganze Leben hat sich darum gedreht“, erinnert sich Mathias Mieg. Allerdings, in der Pubertät sei dann sein Interesse deutlich abgeflacht, erst als Student in der Wohngemeinschaft habe ihn die Leidenschaft wieder voll gepackt. Stundenlang wurde gespielt. Richtiges Fußball hatten die beiden Cousins selten gespielt, „da hatten wir kein Talent“, gibt Jochen Mieg zu.

Es war kein Mieg, sondern ein Stuttgarter Möbelfabrikant, der das Spiel 1921 erfand und patentieren ließ. Doch es war ein Mieg, der die Idee wenig später zur Marktreife entwickelte. „Schon mit dem Prototyp wurde wie heute gespielt“, schreiben die beiden Experten Katrin Höfer und Peter Hesse, die ein „Großes Tipp-Kick-Buch“ geschrieben haben. Einige Neuerungen gibt es dann doch: Die Figuren sind heute nicht mehr aus Blech, sondern aus Zink, der Ball nicht mehr aus Kork, sondern aus Kunststoff.

Kein Training nötig

„Es ist ein einfaches Spiel“, erklärt das Unternehmer-Duo und damit den besonderen Reiz. Es gibt kein dickes Regelbuch, das man studieren müsste. Training sei nicht groß nötig, jeder könne sofort mitmachen. Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn der rechte Schuss aufs Tor ist eine Wissenschaft für sich – bis heute. Zu viel Druck aufs Schussbein – und der zwölfeckige, zweifarbige Ball donnert übers Mini-Tor hinaus. Manche Fortgeschrittenen versuchen daher, den Ball gefühlvoll und ganz seicht ins Tor zu schlenzen – was aber nicht so einfach klappt. Eine echte Gefühlssache, der man nur mit stundenlangem Probieren auf die Schliche kommt. Es gibt „Profis“, also Tipp-Kick-Freaks, die in Vereinen spielen, die dem rechten Schussbein mit Schraubenzieher und Feile zu Leibe rücken, um dort durch raffinierte Eingriffe und Modifizierungen die Treffsicherheit zu erhöhen.

Den großen Durchbruch schaffte das Unternehmen schließlich mit dem „Wunder von Bern“, als Deutschland 1954 Fußballweltmeister wurde. Für die Firma in Villingen-Schwenningen hieß das damals: 180 000 verkaufte Tipp-Kick-Spiele. Dieser Rekord sollte für über ein halbes Jahrhundert halten. Doch diese fußballbedingte Hochkonjunktur hielt nicht an. „Wir kämpfen heute ums tägliche Überleben, wie der gesamte Spielzeughandel“, sagt Jochen Mieg. Das Fortbestehen hängt heute wesentlich vom Gelingen eines ganz speziellen Geschäftsmodells ab: Entscheidend ist der Verkaufserfolg rund um die großen Fußballturniere alle zwei Jahre. „Das Geschäft durch Europa- und Weltmeisterschaften muss uns über die dazwischenliegenden Durststrecken hinweghelfen“, betont Mathias Mieg. In Verhältniszahlen ausgedrückt, bringe eine WM oder EM zwischen 30 bis 40 Prozent Umsatzplus. Die Jahre zwischen den großen Turnieren bezeichnet er denn als „Zwischenjahre“. Ein Saisongeschäft der besonderen Art – freilich mit großem Risiko.

Jetzt, wenige Wochen vor dem Start der WM, läuft das Geschäft auf Hochtouren. Dabei hatte man in Schwenningen zunächst gehörigen Zweifel: Russland als Austragungsort, das erschien als wenig sexy, eher als unkalkulierbares Risiko. „Wir waren zunächst ziemlich skeptisch, jetzt allerdings sind wir positiv überrascht.“ Ziel ist es, bis zu Beginn des World Cup alle 32 teilnehmenden Mannschaften als Miniatur-Spieler in ihren jeweiligen Trikotfarben anzubieten. Mit deutschen Trikots werden 10 000 Spiele produziert, bei Außenseitern wie Iran oder Senegal liegt die Zahl bei ungefähr 50 Stück.

Schwäbische Handarbeit

Übrigens: Zumindest teilweise werden die Trikots noch heute handgemalt – von Heimarbeitern im Schwäbischen. „Ansonsten montieren wir noch eine kleine Menge hier im Haus“, sagen die Miegs. Das Gros werde seit den 1990er-Jahren in China produziert. „Das ist unsere einzige Chance.“ In Schwenningen gibt es dagegen gerade mal ein halbes Dutzend Mitarbeiter.

Es gibt noch eine zweite Seite des ganz besonderen Geschäftsmodells – der Absatz von Firmen- und Werbegeschenken rund um den WM-Termin. Da ist etwa ein französischer Küchengeräte-Hersteller. „Der gibt zu jedem verkauften Grill ein Tipp-Kick-Spiel gratis.“ Ein warmer Regen für die schwäbischen Spieleproduzenten. Oder ein italienischer Kräuterlikör-Produzent gab bei der WM 2006 zu jeder verkauften Flasche einen Tipp-Kick-Spieler umsonst. Ein Schokoladenhersteller ließ vor einigen Jahren eigens eine Sonderproduktion anlaufen, ein Tipp-Spiel mit einem besonderen Gag: Das Tor war ebenso quadratisch wie die Schokoladentafel. „2006 bei der WM in Deutschland war der Umsatz mit derartigen Werbeträgern sogar größer als der Spielwarenumsatz“, erinnern sich die Vettern. Tipp-Kick – nur ein Saison- und Nischenprodukt also? Ein mechanisches Überbleibsel im Video- und Digital-Zeitalter? Es existiert eine gar nicht so kleine Schar eingefleischter Fans, „eine ,Tipp-Kick-Subkultur’“, wie es die beiden Cousins nennen. 60 Vereine mit 1500 Mitgliedern sind im Deutschen Tipp-Kick Verband (DTKV) organisiert. Es gibt jede Menge Turniere, äußerst penible Regeln und natürlich auch einen deutschen Meister, der heißt derzeit Gallus Frankfurt. „Gespielt wird in zwei Bundesligen und vier Regional-Verbandsligen“, erklärt der 56-jährige Vereinsboss Peter Funke aus München. „Natürlich machen uns die technischen Spiele Konkurrenz“, räumt er ein. Doch den direkten Kontakt der Spieler beim Tipp-Kick könne kein Computer ersetzen.

Bombengeschäft zum Jubiläum?

„Eigentlich müssten Eltern ihre Kinder an das Spiel heranführen“, sagt Jochen Mieg mit Blick auf die überstarke Videospiel-Konkurrenz. „Die Kids müssen sehen, dass es jenseits der Elektronikspiele noch etwas anderes gibt.“ Die schönsten Augenblicke des Mieg-Duos: „Wenn auf einer Messe der Großvater zum Enkel sagt: ‚Schau mal, das habe ich als Kind auch schon gespielt.’“

Die beiden Cousins denken bereits weit voraus. Im Jahr 2024, wenn das Unternehmen 100 Jahre alt wird, ist wieder eine Fußball-EM. Das verspricht ein potenzielles Bombengeschäft. Als Austragungsland für das Fußballturnier haben sich bisher Deutschland und die Türkei beworben. „Wir können nur hoffen, dass Erdogan viel Mist macht bis dahin.“ Damit die EM nach Deutschland kommt. Und damit der alte Rekord wieder wackelt.