Versuchter Dreifach-Mord: Täter kennt Opfer gar nicht
Tuttlingen / Lesedauer: 7 min

2022 war ein Sommer voller Brände im Kreis Tuttlingen. Ein spektakulärer Fall trug sich mitten in Tuttlingen zu, in der Nacht des 30. Juli 2022 brannte es in einem Haus in der Stockacher Straße. Die Bewohner konnten sich nur durch Glück retten. Schnell war klar, dass es sich um Brandstiftung handelte.
Der mutmaßliche Täter, ein 23–Jähriger aus einer Tuttlinger Kreisgemeinde, muss sich nun vor dem Landgericht Rottweil dafür verantworten. Die Hintergründe, die sich dabei auftun, offenbaren persönliche Abgründe.
Kein eindeutiges Motiv erkennbar
Versuchter Mord in drei Fällen, Brandstiftung und gefährliche Körperverletzung wird Marius E. (Name von der Redaktion geändert) zur Last gelegt. Marius E., der sich selbst als „friedfertige Person“ bezeichnet, ist vor Gericht geständig.
TäterIch war überfordert, hatte das Gefühl, dass sich keiner dafür interessiert hat, wie es mir geht.
Aber das Irritierende ist: Die Familie, die in dem Haus in der Stockacher Straße lebt, kennt Marius E. eigentlich nicht. „Mit denen hatte ich nichts am Hut“, erklärt er. Einzig den Freund der Tochter kennt er, er soll Schulden bei ihm gehabt haben, 100 Euro für Marihuana. Außerdem hatte er „mal was“ mit der Verlobten des Angeklagten.
Alles vergessen? Der Richter ist skeptisch
Dem Vorsitzenden Richter Karlheinz Münzer reicht das als Erklärung für die schwere Brandstiftung nicht aus. Und Marius E. will zwar „reinen Tisch machen und aussagen, was ich kann.“
Viel ist es aber nicht. Die Erinnerung an den Tatabend versagt. Münzer lässt seinen Argwohn durchblicken: „Ich mache das hier schon ein paar Jahre und habe schon viele Amnesien kennengelernt.“
Täter beklagt schwere Kindheit
Deutlich umfassender schildert Marius E. zum Prozessauftakt sein bisheriges Leben. Als er drei Jahre ist, trennen sich seine Eltern. Er bleibt mit seinem älteren Halbbruder bei seiner Mutter, die die Kinder schon für Kleinigkeiten bestraft und schlägt. Mit der Situation, dass die Eltern ums Sorgerecht streiten und die Kinder mal beim Vater, mal bei der Mutter sind, sei er nicht klargekommen.
TäterIch habe viele Drogen genommen, alles, was mir angeboten wurde.
„Ich war überfordert, hatte das Gefühl, dass sich keiner dafür interessiert hat, wie es mir geht, und dass ich auf der Strecke bleibe“, berichtet der junge Mann. Er isst viel zu viel, wiegt mit zwölf Jahren 120 Kilogramm. In der Schule ist er zwar anwesend, passt aber nicht auf und macht „nicht das, was ich sollte.“ Trotzdem schafft er einen guten Hauptschulabschluss.
Mit 14 Jahren erstmals mit Drogen in Kontakt
Was ihm fehlt, ist die familiäre Bindung. Obwohl er später bei seinem Vater leben darf, fühlt er sich „alleingelassen“. Sein Vater verdient gut durch seine Arbeit, macht Marius E. auch Geschenke, verbringt aber wenig Zeit mit ihm.
„Es gab auch nie Konsequenzen, das habe ich dann ausgenutzt“, sagt er. Mit 14 Jahren raucht er seinen ersten Joint. Schnell nimmt er härtere Sachen. „Ich habe gemerkt, dass mir die Drogen mehr geben als Essen. So habe ich meinen Frust verdrängt. Ich habe viele Drogen genommen, alles, was mir angeboten wurde“, berichtet er.
Durch die Drogen magert er im Laufe der Jahre bis auf 58 Kilogramm ab. Zudem habe er sich noch weniger sagen lassen. „Ich bin noch mehr abgestumpft.“
Zwei Ausbildungen vorzeitig beendet
Das Nachholen der mittleren Reife an der Realschule scheitert. Er beginnt eine Ausbildung als KfZ–Mechatroniker. „Das hat Spaß gemacht, ich war gut, habe verstanden, was ich machen sollte“, erinnert er sich.
Der Drogenkonsum und fehlenden Leistungen in der Schule führen zum vorzeitigen Abbruch der Lehre. Genau das Gleiche passiert später bei der Ausbildung bei einem metallverarbeitendem Betrieb. Er fliegt, verliert zudem die Wohnung, die ihm der Betrieb stellt. Er schläft auf dem freien Feld oder in den Vorräumen von Banken.
Mit dem Vater, der mehrfach verheiratet ist, und seinen Partnerinnen gibt es immer wieder Streit. „Er wollte nicht wahrhaben, dass ich mein Leben so wegschmeiße. Ich wollte mir nichts sagen lassen.“
Verlobte holt in aus dem Sumpf
Zu seiner Rettung wird seine jetzige Verlobte. Die 23–Jährige nimmt ihn bei sich auf und habe ihn „ein Stück weit aus dem Sumpf geholt“. Er sieht sich anfangs als „Hausmann“ und trägt durch einen von einem Stiefbruder vermittelten Aushilfsjob bei einem Gartenbaubetrieb anschließend sogar finanziell zu Lebensunterhalt und Miete bei.
TäterWenn ich konsumiere, dann kenne ich keine Grenzen.
Mit Vater und Stiefmutter söhnt er sich aus, reduziert den Drogenkonsum. „Das war die Richtung, in die ich mein Leben lenken wollte. Ich will weg von Drogen.“
Rückfall bei Betriebsfest
Bis zum 30. Juli des Vorjahres klappt das. Er ist bei der Arbeit angesehen, sieht die Kollegen und Chefs „als kleine Familie.“ Sogar ein Ausbildungsvertrag wird ihm in Aussicht gestellt. An jenem Samstag soll das Betriebsfest stattfinden. Marius E. „glüht“ den Tag über schon vor, hat vor der Feier schon „zwei bis vier Bier“ intus. Auf der Party folgen „ein paar mehr, Gin mit Mischgetränken und Joints. Es war lustig“, berichtet er.
Er habe dann noch mit einem Kollegen auf die Hüpfburg gehen wollen, wisse dann aber nicht mehr, wie er nach Hause gekommen sei und ob er dann nicht noch etwas genommen habe, um runterzukommen. „Wenn ich konsumiere, dann kenne ich keine Grenzen. Ich nehme alles, was ich in die Finger kriege“.
Welche Vorgeschichte hat die Brandstiftung?
Auch an die Ereignisse der Nacht kann er sich nicht erinnern, erklärt Marius E. Die Ermittlungen ergeben, dass er sich mit dem Taxi nach Tuttlingen fahren lässt, sich einen Kanister mit Benzin besorgt. Münzer konfrontiert ihn damit, dass er gesagt habe, er brauche noch Benzin, um was anzuzünden.
„Was ist das für eine Vorgeschichte, dass so was in der Amnesie abläuft?“, will er wissen. Weder vom Angeklagten noch von den Zeugen gibt es eine schlüssige Antwort.
Über die nicht verschlossene Waschküche betritt Marius E. dann das Haus, gießt das Benzin im Treppenhaus, Flur, der Küche und Waschküche aus. Das Geräusch lässt den Vater im angrenzenden Wohnzimmer aufschrecken. „Da war ein Plätschern wie Wasser. Ich habe meinen Vater rufen hören, was da los sei“, erinnert sich die Tochter, die gerade zu ihrem Freund fahren wollte.
Im Treppenhaus trifft sie auf Marius E., den sie aber nicht erkennt. „Ich habe gedacht, es ist mein Freund. Ich habe Schatz gesagt. Er hat nicht reagiert und ist dann weggelaufen“, berichtet sie als Zeugin. Zuerst sei er drei Schritte gegangen, dann gerannt. Als die Tochter den ersten Schock überwindet, folgt sie ihm. In der Küche erkennt sie den Feuerschein aus dem benachbarten Raum. „Als ich die Tür zur Waschküche aufgemacht habe, sind mir die Flamen schon entgegengeschlagen“, berichtet sie.
Täter weint, zittert und entschuldigt sich
Geistesgegenwärtig verschließt sie die Tür, rennt zurück zu ihrem Vater und sagt, dass es brennt. Sie setzt auch den Notruf ab. Der Vater rettet die Mutter, die bereits im Obergeschoss im Bett liegt, sowie die beiden Hunde. Die Mutter erleidet dabei eine Rauchgasvergiftung. Der Schaden am Haus wird auf 150.000 Euro geschätzt.
Nach seiner Tat ruft Marius E. seine Verlobte an, lässt sich abholen. Obwohl er selbst schwere Brandverletzungen hat, will er nicht ins Krankenhaus. Er habe auf der Rückfahrt gezittert, geweint und sich permanent entschuldigt.
Erst sein Vater überzeugt ihn, einen Arzt zu rufen. Die Anklage geht davon aus, dass Marius E. alkoholisiert und unter Drogeneinfluss stand, damit „erheblich vermindert schuldfähig“ ist. Neben der Bestrafung soll der Angeklagte in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden.
Dies sei auch der Wunsch von Marius E. „Ich möchte lernen, anders damit (mit Stress/Anm.d. Red.) umgehen zu können. Ohne Drogen zu nehmen. Das ist mein Ziel. Aber es fällt schwer, wenn man neun Jahre lang nichts anderes gemacht hat“, sagt er, der sich mehrfach für seine Tat entschuldigt. „Ich weiß nicht, warum ich das hätte machen sollen. Es tut mir leid, was passiert ist.“