Psychische Probleme
Apathisch, aggressiv: Jugendlicher muss in die geschlossene Unterbringung
Tuttlingen / Lesedauer: 5 min

Ingeborg Wagner
Die Zahlen sind erschreckend. Das Kreisjugendamt sieht einen deutlichen Anstieg an Kindern und Jugendlichen, die so starke psychische Beeinträchtigungen haben, dass sie Hilfe benötigen: Plus 57 Prozent von 2022 auf 2023. Im Jahr davor war der Anstieg ähnlich hoch. Mit den Auswirkungen der Corona-Lockdowns und Einschränkungen kämpfen die Mitarbeiter immer noch. Doch die Hilfsangebote sind im Grunde ausgeschöpft.
Apathisch oder aggressiv
Jugendliche, die ihren Alltag nicht mehr bewältigen. Kinder, die nicht mehr in die Schule können. Apathisch oder aggressiv sind, Psychosen entwickeln. Jeder einzelne Fall ist schlimm, und sicherlich nicht nur alleine mit Corona zu begründen.
Christina MartinWenn das vorkommt, dann ist das ganz brutal.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kreisjugendamt versuchen, zunächst alle ambulanten Hilfen auszuschöpfen, die es gibt. Und das müssen sie immer öfter tun, mehr als 500 Fallzahlen stehen allein für dieses Jahr in der Statistik.
24 Stunden am Tag weggeschlossen
Erst am Ende eines langen Weges bleibt die geschlossene Unterbringung „Wenn das vorkommt, dann ist das ganz brutal“, sagt Kreisjugendamtsleiterin Christina Martin. Im Grunde bedeute das, dass ein junger Mensch „24 Stunden am Tag weggeschlossen wird, in einer Eins-zu-eins-Betreuung“.
120.000 Euro für ein halbes Jahr ‐ diesen Betrag nannte sie im Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend am Dienstagabend für eine geschlossene Unterbringung. Pro Person. Für einen jungen Menschen musste das Amt diese Maßnahme einleiten, und auch für 2024 wird es wieder dazu kommen. Das Familiengericht hat das bereits angeordnet.
Auch Mütter und Kinder in stationärer Betreuung
Vermehrt müssen auch stationäre Wohnformen für Mutter und Kind gefunden werden. Auch wenn das vergleichsweise immer noch wenige Fälle sind, wirken sie sich massiv finanziell aus.
Für kommendes Jahr stehen 51 Millionen Euro für die Kinder-, Jugend- und Eingliederungshilfe im Haushalt des Kreises. Mit 65 Prozent machen sie den größten Anteil im Sozialhaushalt aus. Allein der Kinder- und Jugendbereich umfasst eine Steigerung von 9,3 Prozent zum Vorjahr.
Wer ist überhaupt noch therapierbar
Kreisrat Paul Haug (FDP) wollte wissen, ob Kinder und Jugendliche, für die Maßnahmen wie eine geschlossene Unterbringung angeordnet werden, überhaupt therapierbar seien. Im Grunde mache das nur bis zu einem Alter von 14 Jahren Sinn, erklärte Martin, „sonst ist der pädagogisch hochwertige Auftrag ums Eck“. Sozialdezernent Bernd Mager ergänzte, dass durch solche Settings versucht wird, zu retten, was noch zu retten ist.
Christina MartinNach Corona musste sich erst mal zeigen: Wer kommt mit, wer schafft Sprung in die Realität zurück.
Landrat Bär sprach von einem „Ausdruck unserer gesellschaftlichen Entwicklungen“. Ihm war als Botschaft wichtig, dass das in keinster Weise planbar sein, auch nicht finanziell. Dabei bezog er sich auf die jüngste Entscheidung eines Familiengerichts, drei Kinder einer Familie außerhalb unterzubringen.
Die Zahlen an stationären und teilstationären Hilfen in der Kinder- und Jugendhilfe belaufen sich in diesem Jahr insgesamt auf rund 350 ‐ im Jahr davor waren es knapp 300.
Corona wirkt sich zeitversetzt aus
Martin sprach von einem zeitlichen Verzug: „Nach Corona musste sich erst mal zeigen: Wer kommt mit, wer schafft Sprung in die Realität zurück.“ Für sie stelle sich dabei auch die Frage, „wie wir das alles versorgen sollen“. Stichwort Fachkräftemangel, auch im Kreisjugendamt sind Stellen seit vielen Monaten nicht besetzt.
Die UMAs
Sie flüchten allein aus ihrem Heimatland, vor Krieg, Verfolgung, absoluter Perspektivlosigkeit: Sogenannte unbegleitete minderjährige Ausländer, kurz UMA genannt. Zwischen Juli 2022 und Oktober 2023 sind 48 UMAs in den Landkreis gekommen, insgesamt leben 66 hier. Drei stammen aus der Ukraine, die anderen aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Iran oder Pakistan.
Die meisten von ihnen sind beim Jugendhilfeträger Mutpol in Tuttlingen untergebracht. Die Unterkunft ist als Erstaufnahme gedacht. Beim BfZ Möhringen und bei Priokids gibt es im Anschluss zwar freie Unterbringungsmöglichkeiten. Doch auch rechtliche Hürden, da sie beide nicht für den Status Inobhutnahme Minderjähriger ausgelegt sind. Dennoch will das Landratsamt vereinzelte Jugendliche verlegen, denn der Platz bei Mutpol wird eng.
Insgesamt soll die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von UMAs auf andere Beine gestellt werden. Vorstellbar wäre eine Gemeinschaftsunterkunft für die jungen Geflüchteten, heißt es aus dem Landratsamt, wenn die Zahlen weiter steigen. Mit Security und Betreuungsstunden der Kinder- und Jugendhilfe.
Zehn UMA, die bei Mutpol leben, werden Anfang 2024 volljährig. Nach Einschätzung von Fachleuten wollen sie dann keine Unterstützung mehr durch das Jugendamt. Sie kommen dann entweder bei der Stadt im Rahmen der Obdachlosenunterbringung unter oder werden den Kommunen zur Anschlussunterbringung zugewiesen. (iw)
Die Mitarbeiter, die das auffangen müssen, seien längst an der Belastungsgrenze angekommen. Weitere Stellen soll es zwar geben, die Frage ist, ob sie besetzt werden können.
Besonders sensibel darauf schauen
„Müssen wir uns Sorgen machen, dass Fälle auftauchen, bei denen man hinterher sagt, das ist dem Personalmangel geschuldet“, fragte Bernhard Schnee (CDU) nach möglichen Kindswohlgefährdungen. Martin entgegnete, dass ihre Mitarbeiter versuchen, die Gefahr zu bannen. „Ich glaube schon, das wir alle zusammen sensibel darauf schauen.“ Aber es sei nicht zu verhindern, dass „da auch mal was raus geht“, ergänzte sie.
400 Kinderschutzmeldungen sind in diesem Jahr im Jugendamt eingegangen, 70 mal wurden Kinder und Jugendliche aus der Familie genommen und anderweitig untergebracht. Bei Pflegeeltern oder in einer Wohngruppe von Mutpol. Etwas weniger als die Hälfte würden danach wieder zurück in ihre Familien gehen, sagte Martin auf die Frage von Katrin Kreidler (OGL). Zahlen dazu gebe es nicht. „Das ist mehr ein Gefühl“, so Martin.