Wandern statt ausruhen
Mit 72 Jahren einmal zu Fuß über die Alpen - so lief das Abenteuer ab
Seitingen-Oberflacht / Lesedauer: 4 min

Sabine Doderer
Wandern, das Wort klingt nach gemütlichem Sonntagsausflug. Doch ist der berühmte Weitwanderweg E5 von Oberstdorf über die Alpen nach Meran alles andere als ein gemütlicher Freizeitausflug. Trotzdem hat ihn die 72-jährige Annemarie Beckereit aus Seitingen-Oberflacht in Angriff genommen ‐ erfolgreich.
„Man sollte sich vorher mental und vom Ausdauertraining her auf diese Herausforderung vorbereiten“, resümiert die sportliche Rentnerin. Doch wie kam sie eigentlich auf die Idee einer Alpenüberquerung per pedes?
Sportlicher Ehrgeiz war geweckt
„Meine Schwiegertochter hat mir im Frühjahr einen Prospekt von der Bergschule Oberallgäu mitgebracht. Sie meinte, das sei doch mal was für mich“, so Beckereit. Anfangs sei sie skeptisch gewesen, ob sie eine solche Herausforderung in ihrem Alter angehen sollte.

„Aber als ich einen Dokumentarfilm über diesen faszinierenden Weg gesehen hatte, war mein sportlicher Ehrgeiz geweckt“, erzählt die Rentnerin.
Im April mit dem Training begonnen
Bereits im April begann sie, nachdem sie sich eingehend über Vorbereitungspläne informiert hatte, mit ihrem persönlichen Training. Mehr als vier Monate wanderte sie konsequent und diszipliniert mit ihrem 8,5 Kilogramm schweren Rucksack und professionellem Wanderoutfit insgesamt 651 Kilometer und bewältigte zur Vorbereitung 28.500 Höhenmeter.
Annemarie BeckereitEr ist gänzlich ohne Vorbereitung gestartet und hat sich überschätzt.
„Meine eigens hierfür angeschaffte Fitnessuhr war dabei ein echter Ansporn“, sagt Beckereit augenzwinkernd. Zwischendrin gab es dann ein reales Vorbereitungswochenende in alpinem Gelände. „Das war wichtig, auch um sich mental auf den Weg einzustellen und um seine körperliche Fitness zu prüfen“, unterstreicht sie.
Am 24. August ging es los
Am 24. August ging es dann endlich los. In einer Gruppe von zehn Personen, geleitet von einem versierten Bergführer, startete Beckereit in Oberstdorf bei schönem Sommerwetter zur ersten Etappe der Alpenüberquerung.
Schon am ersten Tag schied ein Wanderer aus: „Er ist gänzlich ohne Vorbereitung gestartet und hat sich überschätzt“, berichtet sie.

Bei Etappenlängen von sechs bis 14 Kilometern täglich sei eine gute Kondition und auch die richtige Ausrüstung mit Funktionskleidung, ordentlichem Schuhwerk und Wanderstöcken ein Muss.
Insgesamt sollten in der einen Woche immerhin eine Strecke von rund 64 Kilometer Länge und circa 4500 Höhenmetern jeweils im Auf- und im Abstieg gemeistert werden.
Regen ohne Unterlass
Nur mit dem Wetter hatte die Wandergruppe in dieser letzten Augustwoche kein Glück. Ab dem zweiten Tag regnete es ohne Unterlass.
„Ich hatte den Eindruck, dass das Wasser von überall herkam“, berichtet Beckereit. Beschauliche Bäche wurden bei Dauerregen zu reißenden Flüssen. Die Felswände und Steine waren nass und damit rutschig. Konzentration pur war angesagt. „Da musste jeder Schritt sitzen, ans Plaudern war nicht zu denken.“

Dauerhafter Starkregen, Wind und Kälte führten schließlich am fünften Tag zur Unterbrechung und Änderung der Route. Mit einem Shuttle-Bus wurde die Gruppe in ein Hotel nach Sölden gebracht, anstatt wie geplant nach Vent zur nächsten Rast zu wandern.
Muren hatten die Straßen durchs Ötztal unpassierbar gemacht. „Keine Sekunde haben wir trotz dieser Widrigkeiten ans Aufhören gedacht“, erinnert sich Beckereit an die extremen Erlebnisse.
Erst Regen, dann tiefhängender Nebel
Dank einer motivierten Gruppe ging es am nächsten Tag auf der normalen Route weiter. Doch auf den Regen folgte am sechsten Tag der Wanderung hartnäckiger, tief hängender Nebel.
„Wir hatten leider keine Sicht auf die imposante Bergwelt, mit den noch vorhandenen Gletschern“, bedauert Beckereit, die sich dennoch nicht entmutigen ließ. Jeder Tag sei ein Erlebnis gewesen und habe ihr, gerade durch das Überwinden schwieriger Passagen, das Gefühl gegeben, wirklich etwas gemeistert zu haben.
Nach langandauernden Wettereskapaden wurden die Wanderer schließlich am siebten Tag auf dem eindrucksvollen Panoramaweg durch das Rofental und dem anschließenden Abstieg nach Kurzras im Schnalstal mit strahlend schönem Wetter belohnt.
Am Ziel angekommen, verspürt Annemarie Beckereit eine emotionale Mischung aus Erlösung, Demut, Dankbarkeit und Stolz: „Ich musste einen erlösenden Schrei loslassen“, sagt sie lächelnd. Ohne körperliche Blessuren, glücklich und mental gestärkt trat sie den Weg nach Hause an.