Kein Durchkommen

Verzweifelte Patienten hängen bei der 116 117 in der Warteschleife

Bad Saulgau / Lesedauer: 6 min

Ein Apotheker aus Bad Saulgau ärgert sich über den ärztlichen Bereitschaftsdienst. Deshalb trifft die schlechte Erreichbarkeit auch das DRK hart. 
Veröffentlicht:16.03.2023, 16:50

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Es gibt fast kein Durchkommen: Anrufer hängen in der Warteschleife, weil die Leitungen überlastet sind. Oliver Fritzer, Inhaber der Antonius–Apotheke in Bad Saulgau, kritisiert die schlechte Erreichbarkeit des ärztlichen Bereitschaftsdienstes 116 117. In seinem Notdienst Anfang März wurde er von verzweifelten Patienten angerufen, die einen Arzt oder einen Hausbesuch benötigten. Und auch das DRK schildert Probleme mit der 116 117.

Es haben Patienten bei mir in der Apotheke angerufen, die nicht transportfähig waren.

Oliver Fritzer

Vor knapp zwei Jahren wurde die Servicenummer von den Rettungsleitstellen auf die Callcenter der Kassenärztlichen Vereinigung Baden–Württemberg (KVBW) in deren Eigenverantwortung übertragen. Der Landkreistag - so Landrätin Stefanie Bürkle auf Anfrage  -  stellte schon frühzeitig diese Entscheidung infrage.

Als Mitglied des Gesundheitsausschusses des Landkreistags verfolgte Bürkle die Diskussion sehr genau. „Unsere Bedenken haben wir bereits zu diesem Zeitpunkt auch gegenüber der KVBW und dem Sozialministerium zum Ausdruck gebracht.“

Brief an die Landrätin

Apotheker Oliver Fritzer wandte sich schriftlich an die Landrätin, um sie über — wie er sagt — „den unhaltbaren Zustand des ärztlichen Bereitschaftsdienstes“ zu informieren.

Die Disponenten der KVBW in den Callcentern in Mannheim und Bruchsal sollen den Anrufern bei der Suche nach einer Notartpraxis helfen, ihnen diensthabende Ärzte in der Nähe nennen oder gegebenenfalls einen Arzt zum Hausbesuch schicken. Doch zwischen der Theorie und der Praxis liegen nach Fritzers Erfahrungen in seinem Notdienst am ersten März–Wochenende Welten.

Es haben Patienten bei mir in der Apotheke angerufen, die nicht transportfähig waren, aber unbedingt einen Arzt gebraucht hätten.

Oliver Fritzer

Die Patienten seien eine halbe Stunde, manchmal sogar eine Dreiviertelstunde in der Warteschleife der 116 117 gewesen und legten entnervt und frustriert auf.

Mit Tochter in die Uniklinik

Fritzer wollte die Patienten nicht im Stich lassen, versuchte selbst, einen Arzt über die 116 117 zu erreichen. „Es dudelte die ganze Zeit nur Musik“, so Fritzer, der sich maßlos über die schlechte Erreichbarkeit ärgert. Ihm erging es vor ein paar Wochen genau so, als sich seine siebenjährige Tochter im Gesicht verletzt hatte und sein Anruf bei der 116 117 nicht angenommen wurde.

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Fritzer fuhr mit seiner Tochter in die Uniklinik nach Ulm, wo sie schließlich behandelt wurde. Und was er außerdem schlimm findet? „Die für Hausbesuche bereitstehenden Ärzte sitzen ihren Dienst angeblich untätig ab, da keine Anrufe mehr bei ihnen ankommen und somit auch keine Hausbesuche stattfinden können.“

Landkreis hat wenig Einfluss

Oliver Fritzer schildert offensichtlich keinen Einzelfall. „Probleme mit der Erreichbarkeit der Rufnummer scheint es bereits seit längerer Zeit zu geben. Tatsächlich aber wurde ich in den vergangenen Tagen und Wochen häufiger von Bürgern darauf angesprochen. Mein Eindruck ist, dass es sich um ein landesweites Problem handelt, das je nach Region und Zeitraum unterschiedlich stark ausgeprägt auftritt“, sagt Landrätin Stefanie Bürkle.

Mein Eindruck ist, dass es sich um ein landesweites Problem handelt, das je nach Region und Zeitraum unterschiedlich stark ausgeprägt auftritt.

Landrätin Stefanie Bürkle

Sie verstehe deshalb den Ärger der Menschen in dieser Sache und teile auch die Kritikpunkte, die Fritzer benannt hat. Beim Bemühen, das Problem zu beheben, sei der Einfluss als Landkreis allerdings begrenzt. „Dennoch nehmen wir das Anliegen ernst“, so Bürkle, die Fritzers Beschwerde bereits an die KVBW weitergeleitet hat — verbunden mit der Bitte, zeitnah Abhilfe zu schaffen.

Anzeichen für Herzinfarkt

Von der schlechten Erreichbarkeit des ärztlichen Bereitschaftsdiensts ist auch das DRK betroffen, dessen Wille es nicht war, die Rufnummer an die KVBW abzugeben. Weil offenbar viele Anrufer unter der 116 117 nicht durchkommen, rufen sie in ihrer Verzweiflung die 112 an.

Wir registrieren eine deutliche Steigerung an Fehlfahrten.

Gerd Will

„Es stimmt schon, wir spüren deshalb eine Mehrbelastung“, sagt Gerd Will, Geschäftsführer des DRK–Kreisverbands Sigmaringen. „Wir registrieren eine deutliche Steigerung an Fehlfahrten“, ergänzt Will — etwa 20 Prozent mehr Fehlfahrten als in den Jahren 2021 und 2022. Das stimmt mit dem Zeitpunkt überein, als der ärztliche Bereitschaftsdienst an die KVBW übergeben wurde. „Vorher funktionierte es besser“, ergänzt Will.

Jede Minute zählt

Das DRK wird demnach von Anrufern alarmiert, „obwohl sie sich in keiner lebensbedrohlichen Situation befinden“. Die 112 ist im Grunde genommen für lebensbedrohliche Notfälle wie beispielsweise Anzeichen für einen Herzinfarkt. Deshalb kommt es immer wieder vor, dass der Rettungswagen für einen längeren Zeitraum im Einsatz ist, obwohl er woanders viel dringender benötigt wird. „Jede Fehlfahrt bindet ein Fahrzeug“, so Will, für den es nicht sein könne, dass die Wartezeit bei der 116 117 so lange dauert, dass stattdessen die 112 gewählt werde.

Jede Fehlfahrt bindet ein Fahrzeug.

Gerd Will

Er könne die Abläufe der KVBW zwar nicht genau einschätzen. „Aber sie müssen standardisierter werden. Die Wartezeiten müssen in einem erträglichen Maß sein. Es zählt jede Minute“, so Will.

Veränderte Strukturen

Kai Sonntag, Pressesprecher der KVBW, blickt etwa zehn Jahre zurück, als es noch keine einheitliche Rufnummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst gab. Niedergelassenen Ärzte hatten damals selbst den Wunsch nach einer verbesserten Struktur geäußert, um die Anzahl ihrer Notdienste zu reduzieren.

Wer Anzeichen für einen Herzinfarkt hat, muss sofort die 112 anrufen und nicht die 116 117.

Kai Sonntag

Die Probleme mit der Erreichbarkeit der 116 117 will Sonntag gar nicht wegdiskutieren, sie aber trotzdem erklären. „Die 116 117 geht inzwischen weit über das hinaus, wofür sie eigentlich gedacht war“, sagt Sonntag. Denn der ärztliche Bereitschaftsdienst ist für Patienten da, die außerhalb der regulären Sprechstunde dringend ärztliche Hilfe brauchen und mit ihren gesundheitlichen Beschwerden nicht bis zur nächsten Sprechstunde warten können.

„Es rufen aber viele Menschen am Wochenende an, die einen Termin bei einem Facharzt reservieren wollen oder wie in der Corona–Pandemie einen Impftermin brauchten“, so Sonntag.

Geschultes Personal in Callcentern

Es seien auch Anrufer darunter, die bei der Servicenummer einfach Rat suchen würden, weil sie über ihre Sorgen reden wollen.

In Summe bedeutet dies für das geschulte Personal in den Callcentern: „Das Anrufaufkommen ist sprunghaft gestiegen. Unsere Kapazitäten waren nie auf solch einen Ansturm ausgelegt“, ergänzt Sonntag, der überzeugt davon ist, „dass auch manche Anrufer nach wenigen Sekunden in der Warteschleife schon aufgeben.“

Notfallpraxis aufsuchen

Die KVBW appelliert auch an die Anrufer, nach Möglichkeit zuerst die Notfallpraxis in der Nähe aufzusuchen, um sich medizinisch versorgen zu lassen. „Wer ins Auto einsteigen kann, sollte dies auch tun.“

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Die KVBW stellt außerdem fest, dass viele Menschen unsicher sind, welche Nummer sie denn anrufen sollen. „Wer Anzeichen für einen Herzinfarkt hat, muss sofort die 112 anrufen und nicht die 116 117.“

Im Übrigen seien nach Einschätzung von Sonntag ziemlich alle Hotlines im Gesundheitswesen überlastet. Der Anruf beim Hausarzt könne ebenfalls in einer endlosen Warteschleife münden. Die KVBW hat indes auf die Kritik von mehreren Seiten reagiert. „Wir haben unsere Kapazitäten ausgebaut und die Prozesse verbessert.“ Die KVBW hofft, „dass wir uns Schritt für Schritt dem Normalzustand nähern“, ergänzt Sonntag.