StartseiteRegionalRegion OstalbAalenNach Erdbeben in Antakya: Viele Menschen ohne festes Dach über dem Kopf

Aalen

Nach Erdbeben in Antakya: Viele Menschen ohne festes Dach über dem Kopf

Aalen / Lesedauer: 6 min

Antakyas Bürgermeister Lütfü Savas spricht im Interview über die schwierige Situation in Aalens türkischer Partnerstadt. Und warum er nicht zur Klimakonferenz reisen konnte.
Veröffentlicht:25.09.2023, 19:00

Von:
  • Sylvia Möcklin
Artikel teilen:

Kurzfristig hatte Dr. Lütfü Savas, das Oberhaupt von Antakya, seinen Besuch bei den Reichsstädter Tagen und seine Teilnahme an der ersten Aalener Klimakonferenz absagen müssen. Nun haben er und Oberbürgermeister Frederick Brütting sich in einer Videokonferenz mit den „Aalener Nachrichten / Ipf- und Jagst-Zeitung“ ausgetauscht. Ein Gespräch in gegenseitiger Verbundenheit.

Drei Botschaften hatte der Bürgermeister von Hatay, der Metropolprovinz, in die Antakya 2012 eingegliedert wurde. Erstens: Die Situation in der von einem Erdbeben zerstörten Partnerstadt sei noch immer sehr schwierig und die wiederholte Hilfe aus Aalen noch immer hochwillkommen. „Aalen hat uns sehr unterstützt. Wir danken Oberbürgermeister Brütting und seinen Vorgängern, dass sie uns beiseite stehen. Das ist ewas ganz Besonderes“, so Savas. Zweitens: Gerne hätte er an der Klimakonferenz mit den anderen Partnerstädten teilgenommen. Er bestätigte, dass auch Hatay die Folgen der Klimaveränderungen zu spüren bekomme, und forderte von den Industrieländern, mehr dagegen zu tun als „nur zu reden“. Und drittens: Die Absage von Savas’ Besuch hatte politische Gründe.

Das Gespräch, das Brütting und sein Amtskollege auf Türkisch führten, wurde für die anderen Teilnehmer von der Dolmetscherin Nihal Büyükasik übersetzt. An seinen Anfang setzten die beiden Stadtoberhäupter jeweils eine Ankündigung: „Wir haben beschlossen, möglicherweise mit einer Delegation in die Provinz Hatay zu fliegen“, sagte der Aalener OB. Um von Savas zu hören: „Wir werden vielleicht im Oktober nach Deutschland kommen und dabei auch einen Abstecher nach Aalen machen.“ Der Hintergrund: Hatay ist zum einen auch mit Kiel verschwistert. Zum anderen will die Stadt Dortmund beim Wiederaufbau helfen, denn viele Menschen dort haben Verwandte in der Region Hatay. Savas und seine Delegation sind zu einem Benefizkonzert in Dortmund eingeladen.

Eine weitere gute Nachricht gab es: Auf dem Gelände der Botanik-Expo in Antakya, auf der 2021 auch Aalen mit einem Bauerngarten vertreten war, sei vor Kurzem ein sogenanntes Gastronomiehaus wiedereröffnet worden, freute sich Savas. Hier werde die Regionalküche hochgehalten ‐ ganz im Sinne einer Verpflichtung, die Hatay 2017 mit der Ernennung zur Unesco-„Stadt der Gastronomie“ eingegangen ist.

Ein Lichtblick für die Aalener Partnerstadt, die nach dem Jahrhundertbeben vom 6. Februar noch immer weitgehend in Trümmern liege. Savas nannte Zahlen: „Insgesamt sind 23.080 Menschen gestorben. Offiziell wurden 30.200 Verletzte gezählt.“ Circa 96.600 Wohngebäude wurden beschädigt, 46.000 kleine Läden und Gewerbestätten zerstört, 2488 landwirtschaftlich genutzte Gebäude ebenso. „Man ist immer noch dabei, die Trümmer abzureißen“, berichtete Savas.

Der Lärm und der Staub, die bei den Aufräumarbeiten entstehen, seien für die Bevölkerung eine große Belastung. Nach dem Abriss werde der Bauschutt vor Ort getrennt, erzählte der Bürgermeister. „Die Firmen, die die Aufträge erhalten haben, fahren diesen Schutt dann mit ihren Lastern ohne Abdeckung weg.“ Abgeladen werde er oft in der Nähe der Container-Siedlungen, in denen viele Leute noch immer hausen. „Es ist eine schwierige Situation“, so Savas. Der viele Staub bedrohe die Gesundheit. Die Kleinst-Partikel könnten Krebs auslösen, und bei älteren Gebäuden bestehe der Verdacht, dass sie Asbest enthalten. Doch zuständig sei die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD.

„Diese Aufgaben sollten mit einem besseren Schutz der Bevölkerung durchgeführt werden“, wünschte sich Savas. Er würde es außerdem begrüßen, wenn die Stadtverwaltungen in den betroffenen Gebieten selbst agieren dürften. „Elf Provinzen sind vom Erdbeben betroffen, und alle werden zentral von der AFAD betreut“, erklärte der Bürgermeister. Er schlug vor: Hätten die Zuständigen vor Ort ein eigenes Budget, könnten sie schneller und wirtschaftlicher an der richtigen Stelle anpacken. Zusammengefasst hatte Savas dies bereits im August in einem Interview mit dem ZDF so: „Hätte ich die Entscheidungsvollmacht, würde ich die Gesundheit zur Priorität machen; Hatay komplett evakuieren und so schnell wie möglich wieder aufbauen.“

Stattdessen müssten derzeit viele Menschen noch immer in unzureichend ausgestatteten Containern oder in Zelten leben. „Und der nächste Winter steht bevor“, so Savas. Von rund 550.000 Bürgern, die nach dem Erdbeben aus der Region geflüchtet waren, seien inzwischen vermutlich um die 120.000 wieder zurückgekehrt. Gerade habe die Schule wieder begonnen. Kein Grund zur Freude: Denn das Problem, in welchen Räumen die Kinder zur Schule gehen können, sei genauso wenig gelöst wie das, wo die Erwachsenen arbeiten sollen.

Für die Hilfe aus Aalen sprach der Bürgermeister seinen Dank aus. Transporte mit Kleidung, Werkzeug, Nahrungsmitteln und Trinkwasser wurden von hier bereits in die türkische Partnerstadt geschickt. Und nun unterstützten Aalen und Kiel mit je 500.000 Euro den Bau eines Reha-Zentrums für die Opfer des Erdbebens. Hier sollen viele der schwerstverletzten oder amputierten Erdbebenopfer behandelt und Traumata psychologisch aufgearbeitet werden. „Derzeit prüfen wir, wo wir diese Einrichtung bauen können“, erklärte Savas.

Der Bürgermeister bestätigte, dass die Menschen in seiner Heimat zusätzlich auch durch starke Klimaveränderungen belastet seien. „Die Jahreszeiten passen nicht mehr, es regnet nicht mehr im Winter, und wenn, dann sturzbachähnlich“, so Savas. So sei Hatay als eine von vier türkischen Provinzen von einer großen Dürre betroffen gewesen. Als dann Regenfälle kamen, habe der ausgetrocknete Boden sie nicht aufnehmen können, es kam zu Überschwemmungen. Den Ursachen, darunter dem zu großen Ausstoß von Treibhausgasen wie CO2, müsse dringend entgegengewirkt werden. Hier nahm Savas die Industrienationen in die Pflicht: „Sie sind die Hauptverursacher. Sie treffen sich und reden über Maßnahmen, tun aber nichts“, so der Vorwurf des Stadtchefs. „Dabei sollten die Industrienationen Vorbildfunktion haben.“

Die erste Aalener Klimakonferenz erachtete Savas deshalb als vorbildlich. Auch er hätte sie unterschrieben, versicherte er. Doch habe er seine Zusage nach Aalen zu kommen kurzfristig zurückziehen müssen, nachdem die regierende Partei Spekulationen gestreut habe, seine Delegation wolle „aus Jux und Dollerei“ nach Aalen reisen, statt ihren Pflichten in Antakya nachzukommen. Da man sich im Wahlkampf befinde und nicht „etwas Gutes schlechtreden“ lassen wollte, habe man absagen müssen, so der Politiker. Savas gehört der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP an. Die nächsten Kommunalwahlen in der Türkei finden 2024 statt.

„Ich bin seit 14-einhalb Jahren Bürgermeister“, erklärte Savas abschließend, „und habe immer eine tiefe Freundschaft mit unserer Partnerstadt Aalen erlebt.“ Es sei wichtig, diese Zuneigung „an die kommenden Generationen weiterzugeben“.


Spenden für die Erdbebenhilfe in Hatay sind nach wie vor willkommen: