Jugendhilfeeinrichtung
Wie Corona das Leben in einer Wilhelmsdorfer Jugendhilfeeinrichtung verändert
Wilhelmsdorf / Lesedauer: 6 min

Schwäbische.de
Nichts ist mehr wie in den Zeiten vor der Corona-Krise. Tief greifende Einschränkungen treffen jede Familie. Der Betreuungs- und Schulbereich muss sich neu einspielen.
Noch heftiger trafen die Einschränkungen die Kinder und Jugendlichen mit sehr hohem Förderbedarf, die in Einrichtungen der Jugendhilfe leben, betreut und dort auch unterrichtet werden. In vielen Bereichen herrschte eine große Unsicherheit, wie mit den Auswirkungen der Pandemie umgegangen werden muss. Und auch heute wirken die Einschränkungen massiv nach. Von der Normalität ist man noch weit entfernt.
Schon die Definition, was das Hoffmannhaus in Wilhelmsdorf im Bereich der Jugendhilfe leistet, zeigt die Vielfalt der Aufgaben. Gerhard Haag , Gesamtleiter dieser Einrichtung, sagt: „Das Hoffmannhaus ist eine differenzierte sozialpädagogische Einrichtung der Jugendhilfe, mit sonderpädagogischer, heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Ausrichtung.
Die Hoffmannschule ist ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit den Bildungszielen Grundschule, Förderschule und Werkrealschule sowie eine Sonderberufsfachschule.“ Schon diese Darstellung zeigt, wie differenziert die Arbeit der Mitarbeiter an den „verhaltenskreativen“ Kindern und Jugendlichen, so der Leiter der Hoffmannschule, Jens Buchmüller , einzuordnen ist.
Kleinere Gruppen
Um alle Vorschriften und Vorgaben einhalten zu können, müssen in Corona-Zeiten kleinere Gruppen gebildet werden. Um die Betreuung zu gewährleisten, werden die Mitarbeiter bereichsübergreifend eingesetzt. Nicht zwei Lehrer unterrichten in einer Klasse, sondern ein Lehrer und eine Erzieherin, um ein Beispiel zu nennen. Doch damit nicht genug. „Lehrer und Erzieher werden bereits übergreifend in der Schülerbeförderung eingesetzt. Nur so kann der Schulbesuch für alle gewährleistet werden“, erzählt Gerhard Haag.
Möglichst normal bewegen
Aus ihren Erfahrungen als Jugend- und Heimsprecherin im Hoffmannhaus berichtet die 14 Jahre alte Lia, wie sie sich zum Schutz ihrer Identität nennen lässt. „Einige von uns in den Wohngruppen hatten schon große Probleme mit den Einschränkungen.“ In den Gruppenstunden sei darauf hingearbeitet worden, dass sich alle möglichst normal mit den Vorgaben bewegen. „Die Abstandsregeln und der Mundschutz sowie die Beschränkung auf den Bereich des Heims fiel vielen von uns schwer. Sie entfernten sich sogar unerlaubt aus dem Gelände, weil sie sich eingesperrt fühlten“, sagt die Realschülerin.
Aufbegehren gegen Maßnahmen
Gerhard Haag bestätigt diese Schilderung. „Das Eingesperrt sein führte bei einigen zu großer Not. Es gab ein Aufbegehren. Kein Verständnis herrschte dafür, dass der eine oder andere Betreute die Wochen ab Mitte März zu Hause bei den Familien verbringen durfte. Andere mussten die ganze Zeit über hier bei uns im Heim bleiben.“ Für diese war dann Schulunterricht angesetzt.
Allgemeine Heimfahrten waren bis Mitte Mai gestrichen. Auch Eltern durften in dieser Zeit nicht zu Besuch kommen. Da kam es dann auch zu Handlungen im öffentlichen Raum in der Gemeinde, mit denen der Frust abreagiert werden sollte, die aber trotzdem nicht entschuldbar waren, räumte der Heimleiter ein.
Regelmäßiger Kontakt und Tipps
In der ganzen Krisenzeit stehen die Lehrer und Erzieher in regelmäßigem Kontakt mit den Eltern, wird betont. Wenn Kinder zu Hause lernten, gab es hilfreiche Tipps für den Umgang der Kinder mit den Hausaufgaben. Nach den Beobachtungen von Jens Buchmüller führte dies in einigen Fällen dazu, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen deutlich selbstständiger wurden und eigenverantwortlich arbeiten konnten. Andere im Heimbereich lernten, wie wichtig in schwierigen Zeiten Freunde sind.
„Und gemeinsam picknicken durften wir auch nicht. Das ist eine Frechheit.“
Ihre Sicht der Dinge schildern Annette (sieben Jahre) und Christopher (achteinhalb Jahre), die aufgeregt dem ersten Interview ihres Lebens entgegensahen. Beide gehören zu einer Tagesgruppe. Nach dem Gespräch fährt Heilpädagogin Sandra Brechenmacher die zwei Kinder nach Ravensburg ins Elternhaus.
Auch das ist ein Beispiel für die bereichsübergreifende engagierte Arbeit am Hoffmannhaus. Ganz zappelig betont Annette, dass Corona „ganz schlecht“ ist. „Wir durften uns nicht in den Arm nehmen. Und gemeinsam picknicken durften wir auch nicht. Das ist eine Frechheit.“ Ein Ziel hat sie aber schon vor Augen: „Wenn alles vorbei ist, dann gibt es eine Corona-Party“, freut sie sich.
Überaus ernsthaft hat sich Christopher mit dem Coronavirus und seine Auswirkungen auf sein Leben beschäftigt. „Ich kenne die Regeln zu Corona. Schlimm waren die Masken in der Pause.“ Ebenso schlimm empfindet er es, dass die älteren Menschen sehr gefährdet sind. Er denkt dabei wohl an seinen Großvater. Die Regeln seien wichtig gewesen, Abstand halten sei nicht so schlimm.
In den sechs Wochen, in denen die Tagesgruppenkinder nicht in die Schule nach Wilhelmsdorf durften, sei es zu Hause gut gewesen. In der Familie musste kein Mundschutz getragen werden. Eher in sich gekehrt begrüßte es Christopher, dass in dieser Zeit wenig Trubel um ihn herum herrschte. Annette wiederum mochte zu Hause nicht so gerne Hausaufgaben machen. „Mich hat immer unser Kater gestört!“
Arbeit mit den Eltern intensiver
Im Rückblick sieht Sandra Brechenmacher, dass die Arbeit mit den Eltern intensiver wurde. In den Tagesgruppen gibt es normalerweise einmal im Monat einen Hausbesuch. Die Betreuer gehen mit dem Kind in die Familie und erkundigen sich bei den Eltern, wie es läuft.
„Manchmal vermitteln wir zwischen Schule und Elternhaus, wenn es beim Lernen Fragen oder im sozialen Verhalten Schwierigkeiten gibt“, erzählt die Heilpädagogin. In der Corona-Zeit ist die Elternarbeit noch intensiver geworden. Kontakte fanden ein- bis zweimal pro Woche statt. „Mir fällt auf, dass wir schneller bei kritischen Themen ankommen, zum Beispiel, ob eine gute Struktur für den gemeinsamen Tagesablauf gefunden wurde.“ Oft sei es nötig gewesen, in den Familien Druck herauszunehmen. Kinder und Eltern sind nicht gewohnt, dass man zu Hause lernen muss. „Unsere Hilfestellungen wurden von den meisten Eltern dankbar angenommen.“
Kritik an fehlenden Vorgaben
Organisatorisch gab es in den zurückliegenden Monaten viel Arbeit für die Heimleitung. Erstellt wurde ein Plan, was alles geleistet und eingehalten werden muss. Pläne wurden für die Einrichtung einer Quarantänegruppe auf dem Höchsten erarbeitet. Bisher musste auf eine solche Notfalllösung nicht zurückgegriffen werden.
Zwei Mitarbeiter in der Einrichtung waren zwar infiziert, hatten aber kaum Kontakt zu den Heimbewohnern. Bei vier Kindern und einer Erzieherin gab es Krankheitssymptome, waren jedoch nicht infiziert. Gerhard Haag kritisiert im Rückblick, dass es lange an klaren Aussagen des Ministeriums fehlte, wie in Jugendhilfeeinrichtungen verfahren werden soll.
Erst vier Wochen nach den angeordneten Einschränkungen habe es klare Aussagen gegeben. Dazu kamen heftige Diskussionen mit Lehrkräften, die zur Risikogruppe zählen, warum Lehrer in gleicher Situation an öffentlichen Schulen nach der Lockerung zu Hause bleiben konnten, die Pädagogen hier im Hoffmannhaus aber zum Unterricht erscheinen mussten. Der Wunsch von Gerhard Haag daher: „Wir alle hoffen, dass bald wieder Normalität in unserem Leben einkehrt.“