Prozessauftakt
Kassiererin leidet bis heute an Angst und Alpträumen
Weingarten / Lesedauer: 7 min

- Nina Poelchau
Es war ein Auf und Ab, ein On und ein Off, doch alles in allem: Es passte. Zwei Menschen mit 25 Jahren Altersunterschied und meist am Abgrund hatten 2017 zusammengefunden. Sie hatten sich gegenseitig aufgebaut und ausgeholfen, mal mit Geld, mal mit Koks. Bis der Mann am 16. Oktober 2022 in Weingarten eine Spielothek ausraubte und die Frau zu seiner Komplizin wurden. Da rissen sie einen dritten Menschen in ihr Drama, eine Frau Mitte 20, die Kassiererin. Seit gestern, Dienstag, müssen sich die beiden vor dem Landgericht in Ravensburg verantworten. Es drohen einige Jahre Haft.
Spielotheken sind immer wieder Ziel von Überfällen, in den zurückliegenden Jahren wurden in Landkreis Ravensburg fast ein Dutzend davon heimgesucht. Die 53–jährige Frau, die in der Ravensburger Schussensiedlung aufwuchs, und der 28-Jährige, der 2015 aus Afghanistan nach Deutschland geflohen war und hier seither subsidiären Schutz genießt, waren beide Stammgästen in verschiedenen Spielotheken gewesen. Beide sagten vor Gericht, sie seien spielsüchtig.
Der Mann hatte sich sogar schon einmal in Behandlung begeben. Zusätzlich zum Problem mit dem Glücksspiel konsumierte er Kokain.
Überfallen von Ängsten und schweren Gedanken
Dem Gericht berichtete er von tiefen seelischen Wunden. Sein Vater, ein Berufssoldat, war von den Taliban erschossen worden, als er,der Sohn, etwa 17 war, kurz darauf starb die Mutter. Sein Bruder und er flohen. In Deutschland lernte er schnell die Sprache, fand auch einen Job, der ordentlich bezahlt war, aber er fühlte sich allein und oft überfallen von Ängsten und schweren Gedanken.
Die Frau hatte zusätzlich zum Glücksspiel eine Abhängigkeit von Opioiden entwickelt. Zunächst als Schmerzmittel eingesetzt, hatte sie den Konsum von Tilidin immer weiter hochgeschraubt. Auch sie konsumierte Kokain, „zog immer wieder mal eine Linie, wie sie sich ausdrückte — „wenn er von dem Zeug drauf war, war es schwierig, wenn man nichts genommen hatte“, sagte sie. Sie berichtete von einer verhängnisvollen Drogenkarriere zwischen etwa 16 Jahren und Anfang 20. Damals war sie abhängig von Heroin gewesen und nahe am Suizid.
Kinder weinen im Zuschauerbereich
Im Sitzungsaal des Landgerichtes saßen am Dienstag fünf ihrer Kinder im Zuschauerbereich — vier junge Frauen und ein junger Mann. Als ihre Mutter von der Vergangenheit erzählte, flossen bei ihr und bei ihren Kindern Tränen. Ihr Mann, den sie 1992 geheiratet hatte, war Wanderprediger gewesen, zehn Kinder habe er gewollt. Nach der neunten Geburt habe sie körperlich nicht mehr gekonnt. Ein Sohn starb mit neun Monaten.
Sie tingelten einige Jahre durch die Welt, lebten im Zelt oder alle zusammen in einem Zimmer und von der Hand in den Mund. Die Ehe hielt nicht, ihr Mann habe sich auch immer wieder in andere Frauen verliebt, sagt sie. Im Jahr 2015 dann die Trennung.
Sie war viel krank, bald lebten die Kinder bei ihrem Vater, sie fühlte sich allein und „nicht mehr als Frau“.
Ihrem späteren Lebensgefährten begegnete sie 2016 im Irish Pub in Ravensburg. Auch er: Verloren. Kokainabhängig. „Wir konnten über alles sprechen“, sagt sie, „ich konnte ihm von meinem toten Kind erzählen“, sagt sie, „mein Mann hat ja immer nur gesagt, der ist bei Gott, dem geht’s gut“ und weint.
Immer häufiger gab es Auseinandersetzungen
Es sah nur für eine kurze Zeit so aus, als könnten die beiden, damals 22 und 47 Jahre alt, in ein gesundes und konstruktives Leben finden. Beide hatten einen Job — sie als Altenpflegehelferin in Weingarten, er bei einem Ravensburger Konzern in der Produktion. Sie sprachen sogar übers Heiraten. „Ich glaube an Gott“, erzählt die Frau, „es ist nicht gut, einfach so zusammen zu sein. Aber der Altersunterschied erschien dann doch beiden zu groß. Und immer häufiger gab es Auseinandersetzungen. Sehr oft ging es um Geld. Beide hatten Kredite von der Bank bekommen, die sie nicht zurückzahlen konnten. Die häufigen Besuche in Spielotheken sorgte für eine Achterbahnfahrt aus Hoffnung und Enttäuschung. Sie fraßen das Geld schnell auf, das sie durch ihre Jobs auf dem Konto hatten. Sie gewannen selten und verloren so gut wie immer. Dann das teure Kokain, das sie zu brauchen glaubten, um den Spielfrust zu verarbeiten.
Am 15. Oktober besuchten sie gemeinsam die Spielothek in Weingarten. Nachmittags verloren sie Geld. Gegen 23 Uhr kamen sie noch einmal, verloren den letzten Rest, den sie hatten. Der 28–Jährige erzählt, er habe seiner Gefährtin an diesem Tag berichtet, dass ihm sein Dealer im Genick säße — der habe ihm gedroht, er würde ihn körperliche Gewalt antun, sollte er nicht in den nächsten Tagen sein Geld zurückzahlen.
Messer zufällig dabei
Glaubt man der Schilderung des Mannes, entstand erst nach dem zweiten Besuch, kurz vor Mitternacht, der Entschluss, die Spielothek auszurauben. Der 28–Jährige gab sich offensichtlich Mühe, seine Komplizin möglichst aus der Sache herauszuhalten. Er sei es gewesen, der die Entscheidung gefällt habe, sich kurz nach Mitternacht eine FFP2–Maske überzuziehen, die im Auto herumlag, eine Sonnenbrille aufzusetzen und einen Kapuzenpullover überzustreifen. Er habe eine Plastiktüte im Auto gefunden und dann zufällig in seiner Pullover–Tasche ein Messer. Die Frau habe das Messer nicht gesehen, außerdem gesagt, das sei alles „Scheiße“, das dürfe man nicht. Sie sei trotzdem einverstanden gewesen, mit dem Auto auf ihn zu warten. Sie erklärt stockend, sie habe ihn irgendwie verstanden, sie habe aber auch gesagt, sie wolle mit dem allen nichts zu tun haben.
In einer Videoaufzeichnung in der Spielothek ist zu sehen , wie er die Kassiererin, eine zierliche, kleine Frau Mitte 20, mit dem Messer bedroht und am Arm packt. Wie sie aus dem Tresor und der Kasse Geld in die Plastiktüte wirft und wie er sie daran hindert, den Alarmknopf zu drücken, indem er ihre Hand drückt.
Danach ist er aus dem Gebäude gelaufen, zum Auto, in dem seine Freundin saß. Er sprang hinein, erzählen beide, sie sei ohne Licht los gefahren, ohne Licht, etwa zwei Kilometer zu ihm nach Hause.
Etwa 1900 Euro Beute hat er dort zusammengezählt.
Während er das Geld zählte, erinnert sie sich, habe sie Kokain geschnupft. Am nächsten Tag sei sie weggefahren. Zwei Tage später habe sie am Bahnhof in Ravensburg dann trotzdem 200 Euro von ihm genommen, obwohl klar war, dass das Geld aus der Spielothek stammte, „ich habe nicht darüber nachgedacht, ich habe das Geld gebraucht, für Benzin“.
Kassiererin erst seit Kurzem dort beschäftigt
Auch die junge Kassiererin, das Opfer des Überfalls, sagte am Dienstag im Gericht aus. Sie schilderte mit sehr leiser Stimme, sie habe im Schussental ein neues Leben anfangen wollen nach äußerst schweren Erlebnissen zuvor in Homburg. Sie habe gerade zwei Wochen in der Spielothek gearbeitet. Als der Mann sie bedrohte, da habe sie gedacht, sie müsse sterben. Bis heute leide sie an Ängsten und Alpträumen. Sie ist in therapeutischer Behandlung und arbeitet jetzt im Verpackungsbereich einer Firma.
Es dauerte nach der Tat nicht lange, bis die beiden gefunden waren, die Videoaufzeichnung gab präzise Hinweise. Das Gericht muss nun herausfinden, ob die beiden gemeinsame Sache gemacht haben. Oder ob die Frau nur eine Randfigur bei der Sache des Mannes war.