Erinnerungen
Welche Auswüchse die Hyperinflation im Kreis Ravensburg annahm
Ravensburg / Lesedauer: 9 min

Annette Vincenz
Dienstleistungen, Energie, vor allem aber Lebensmittel unterliegen seit knapp zwei Jahren einer enormen Teuerung. Besonders ärmere Menschen, aber auch die Bezieher mittlerer Einkommen ächzen unter der Inflation. Und nicht alle profitieren von üppigen Gehaltserhöhungen, die die Preissteigerungen abmildern. Das Jahr 2023 ist aber gar nichts im Vergleich zu 1923.
Damals litt Deutschland unter einer Hyperinflation - die Preise stiegen innerhalb kürzester Zeit ins Unermessliche. Ulrich Kees hat die Auswirkungen auf den Landkreis Ravensburg gründlich recherchiert und in einem spannenden Beitrag für das Heft „Oberland“ zusammengefasst. Schwäbische.de sprach mit dem Historiker und Leiter des Kreisarchivs über die damaligen Verhältnisse, die die Gegenwart in sanfterem Licht erscheinen lassen.
Was genau versteht man unter einer Hyperinflation?
Eine extrem starke Ausprägung von Inflation. Dabei liegt die Inflationsrate bei 50 Prozent und mehr, und das Preisniveau erhöht sich in einem sehr schnellen Tempo.
Was war der Auslöser und was die Ursache?
Auslöser war der durch die damalige Reichsregierung ausgerufene Generalstreik im wichtigsten Industriegebiet des Reiches, dem Ruhrgebiet. Nachdem zwischen dem 11. und 16. Februar 1923 französische und belgische Truppen wegen ausbleibender Reparationszahlungen das Ruhrgebiet besetzt hatten, hatte die deutsche Regierung unter dem damaligen Kanzler Wilhelm Cuno die Menschen des Ruhrgebiets zu einem passiven Widerstand gegen die Besatzer aufgerufen.
Verwaltung, Verkehr und Industrie wurden lahmgelegt und die streikende Bevölkerung durch die Regierung finanziell unterstützt. Weil aber die Staatskassen leer waren, nahm die bereits vorherrschende Inflation weiter an Fahrt auf und entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zu einer beispiellosen Hyperinflation.
Die tieferliegende Ursache für die Hyperinflation war aber auf den Umstand zurückzuführen, dass das Kaiserreich die Koppelung der damaligen Goldmark an die vorhandenen Goldvorräte mit Beginn des Ersten Weltkrieges auflöste. Nachdem die Reichsbank bis dato ein Drittel ihres Wertes in Gold vorhalten musste und deshalb die Geldmenge nur ausweiten konnte, wenn sie über die entsprechenden Goldvorräte verfügte, konnte die Reichsbank nun zu jeder Zeit frisches Geld auf den Markt bringen.
Außerdem wählte die deutsche Regierung eine höchst riskante Form der Kriegsfinanzierung: Nämlich den Verkauf von Kriegsanleihen, die nach Kriegsende durch erwartete Reparationszahlungen der besiegten Länder abgelöst werden sollten.
Mit der Kriegsniederlage war dieser Finanzierungsplan allerdings zur Makulatur geworden, und die Reichsregierung musste für die nun sogar selbst aufzubringenden Reparationszahlungen zusätzliches Geld aufbringen. Hierfür brachte sie nun immer mehr Bargeld in Umlauf, was eine immer stärker werdende Entwertung der Goldmark zu Folge hatte.
Sie schreiben, im Frühjahr 1923 lag der Preis für den Liter Milch im Kreis Ravensburg bei 1000 Mark, Mitte Juli bei 4000 Mark, Ende August bei 380.000 Mark und Anfang November bei 12 Milliarden. Warum haben die Menschen im bäuerlich geprägten Oberschwaben nicht einfach Waren und Dienstleistungen getauscht? Genug Nahrung wurde doch wahrscheinlich produziert?
Sicherlich wirkte sich die Teuerung der Grundnahrungsmittel im agrarisch geprägten Oberschwaben nicht so dramatisch aus, wie in den industriellen Ballungszentren des Landes. Trotzdem muss man festhalten, dass auch in Oberschwaben die Nahrungsmittel knapp waren und die Preise für Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Brot oder Milch immer weiter anstiegen. Bei der Milch lag das zum Beispiel daran, dass die Milchleistung der Kühe während des Krieges stark gesunken war.
Zum einen, weil es an Futter mangelte, zum anderen, weil die Kühe in Ermangelung von Pferden und Ochsen oftmals auch als Zugtiere eingesetzt worden waren. Da sich daran auch nach dem Krieg erst einmal nichts geändert hatte und die Molkereien in Oberschwaben und im Allgäu eine bestimmte Menge der produzierten Milch an die notleidende Bevölkerung in sogenannten Bedarfsgemeinden im Großraum Stuttgart abliefern mussten, blieb die Versorgungslage angespannt.
Aber natürlich führte der rasche Wertverfall des Geldes dazu, dass viele Zahlungen nur noch in Naturalien erfolgten. So verlangte zum Beispiel eine Schneiderin aus Aitrach im November 1922 für eine Arbeitsstunde statt Bargeld einen Liter Milch und für eine ganztägige Beschäftigung im Haus ihrer Kunden freie Kost sowie fünf Liter Milch.
Am 23. September 1923 berichtete zudem der Schwäbische Merkur, dass sich Geschäftsleute von den Landwirten für Waren- oder Werklieferungen häufig mit Lebensmitteln, vor allem mit Getreide, bezahlen ließen und dass auch die Landwirte untereinander Tauschgeschäfte vornahmen, also zum Beispiel Obst gegen Getreide oder Kartoffeln eintauschten.
Kommunen wie Ravensburg, Weingarten, Leutkirch, Wangen und Bad Saulgau druckten daraufhin einfach ihr eigenes Geld. War das erlaubt? Und was machten die Banken?
Ja, das war es. Ganz einfach aus dem Grund, weil die Reichsbank die Produktion der Geldscheine nicht mehr alleine bewältigen konnte. Aber nicht nur die genannten Kommunen konnten Notgeld ausgeben. Auch Länder, Regierungsbezirke, Kreise, Banken und Firmen konnten Scheine in Umlauf bringen. Die ausgebende Stelle musste im Vorfeld lediglich die Genehmigung der Reichsbank einholen und eine Sicherheit in Höhe des Ausgabebetrags hinterlegen.
Nach Vorgabe der Reichsbank musste sich das Notgeld deutlich in Form und Material von den normalen Reichsbanknoten unterscheiden. Außerdem musste die Bezeichnung „Notgeld“, die Wertangabe in Wort und Schrift, die ausgebende Stelle sowie das Ausgabedatum und der spätere Einlösetermin samt dazugehöriger Einlösestelle angegeben werden.
Arbeiter litten ihren Recherchen nach weniger als Beamte und Rentner unter der Hyperinflation. Aus welchem Grund?
Einfach deshalb, weil die Gewerkschaften eine Anpassung der Löhne an die Preisentwicklung erreichen konnten und sie im Normalfall auch über keinerlei Ersparnisse verfügten, die ihnen die Inflation hätte „wegnehmen“ können. In Ravensburg und Weingarten kam es in den Jahren 1919 und 1923 immer wieder zu lautstarken Protesten gegen die Preissteigerungen, natürlich verbunden mit der Forderung nach Angleichung der Löhne an die gestiegenen Verbraucherpreise. Dagegen wurden die Bezüge der Beamten und Rentner wie heute auch immer erst mit einer gewissen Verzögerung angepasst. Außerdem fraß die Geldentwertung natürlich auch die Sparguthaben auf, die sich die Beamten anlegen konnten oder von denen die Rentner nach ihrem Eintritt in das Rentenalter zehrten.
Welche Ausmaße nahmen Hunger und Elend an? Kam es häufig zu Mundraub oder Diebstählen?
In Ravensburg, Weingarten, Wangen und Isny gab es Suppenanstalten und Armenküchen, in denen vorzugsweise Kinder und arme alte Leute einmal täglich eine warme Mahlzeit erhalten konnten. Für die Ravensburger Armenküche bat der Ravensburger Bürgermeister Hans Mantz im November 1923 die bäuerliche Nachbargemeinde Schmalegg um die Überlassung von Lebensmitteln.
Ulrich KeesAllerdings wurde diese Bitte abgewiesen. Unter anderem mit dem Verweis darauf, dass Schmalegg oftmals an einem Tag von zehn bis 15 und mehr bettelnden Ravensburger Bürgern heimgesucht wurde.
Wer zudem einen Blick in die Zeitungen von damals wirft, erkennt schnell, dass der Oberschwäbische Anzeiger oder der Allgäubote voll waren von Meldungen über Diebstähle und Einbrüche. Und auch Meldungen über Hamsterer und Schmuggler waren zu dieser Zeit keine Seltenheit.
Gab es auch Profiteure der Situation in der Region?
Auch wenn es immer wieder Bauern gab, die die Preise durch das Zurückhalten ihrer Erzeugnisse hochhielten und gegebenenfalls dadurch sogar noch weiter steigen lassen wollten, muss man festhalten, dass nach dem Ersten Weltkrieg sowohl die Bauern als auch der oberschwäbische Adel ihren bedürftigen Mitmenschen durchaus solidarisch zur Seite standen.
So lieferten zum Beispiel die Bauern des Oberamts Waldsee im Jahr 1920 zu einem ermäßigten Preis 7000 Zentner Kartoffeln an 20 besonders notleidende württembergische Städte. Und im Oberamt Ravensburg stellten Landwirte 1921 und 1922 Teile ihrer Ernte kostenlos den notleidenden Familien der Fabrikarbeiter in Ravensburg, Weingarten, Baienfurt, Mochenwangen und Weißenau zur Verfügung. Auch das Schweizer Ausland half. Allerdings etablierte sich über die Jahre hinweg natürlich auch ein reger Schwarzmarkt, der in der Region ein ganzes Netzwerk von Spekulanten anzog.
Wodurch wurde die Hyperinflation schließlich beendet?
Beendet wurde die Inflation durch die Einführung der Rentenmark. Hierfür wurde im Oktober 1923 zunächst die Deutsche Rentenbank gegründet. Diese brachte ab dem 15. November die durch Hypotheken aufgrund und Boden sowie Immobilien gedeckte neue Währung in Umlauf, die mit einem Wechselkurs von 1 Billion Papiermark zu 1 Rentenmark ausgegeben wurde.
Für den Erfolg der Rentenmark sorgte aber weniger die fiktive Koppelung an den Realwert der aufgenommenen Hypotheken, sondern der strikten Begrenzung der Geldmenge. Obwohl es immer wieder Stimmen gab, die eine Erhöhung der Geldmenge forderten, weigerte sich Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, diese zu erhöhen. Einfach deshalb, damit das Geld in Deutschland wieder knapp und damit „wertvoll“ wurde.
Sehen Sie Parallelen zur heutigen Zeit, 100 Jahre später? Könnte es erneut zu einer solchen Entwicklung kommen?
Bei einem Vergleich zwischen heute und damals muss man festhalten, dass das Jahr 1923 ja nicht nur durch die Hyperinflation geprägt war, sondern sich eben auch durch die eingangs bereits erwähnte Ruhrbesetzung und verschiedene Umsturzversuche von links und rechts auszeichnet, wobei natürlich der Hitlerputsch vom 9. November 1923 am bekanntesten ist.
Wenn man vor diesem Hintergrund einen Vergleich vornimmt, kann man durchaus feststellen, dass Demokratien ‐ so wie es der Historiker Peter Longerich formuliert hat ‐ in Krisenzeiten einfach gefährdet sind. Die politischen Ränder erstarken, und nicht wenige haben das Gefühl, dass sich die etablierten Parteien in einer tiefgreifenden Krise befinden.
Wenn wir aber davon abgekoppelt nur auf die aktuellen Inflationsraten schauen, kann man feststellen, dass wir nicht wie vor 100 Jahren in einer Nachkriegsgesellschaft leben und die aktuellen Inflationsraten nicht einmal im Ansatz an diejenigen der Hyperinflation heranreichen. Diese lagen im Oktober 1923 nämlich bei 24.280 Prozent und im November 1923 bei 17.865,5 Prozent.
Im Gegensatz zur Reichsbank der Weimarer Republik ist die heutige Bundesbank gegenüber der Regierung außerdem auch gar nicht mehr weisungsgebunden. Nachdem nämlich auch die nationalsozialistische Regierung für ihre Arbeitsbeschaffungs- und Rüstungsprogramme erneut in großem Stil die Notenpresse angeworfen hatte, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg das Prinzip einer unabhängigen Zentralbank durch.