StartseiteRegionalOberschwabenRavensburgÜber die Gräuel lokaler Geschichte

Gräuel

Über die Gräuel lokaler Geschichte

Ravensburg / Lesedauer: 4 min

Esther Sattig stellte ihre Promotion über die Sinti im Ummenwinkel im Medienhaus vor
Veröffentlicht:20.10.2019, 16:29

Von:
  • Schwäbische.de
Artikel teilen:

Es war ein ernster, ein erfreulicherweise sehr gut besuchter Abend im Ravensburger Medienhaus zu einem schmerzlichen Thema lokaler Geschichte, dem „Zigeuner-Lager“ im Ummenwinkel, den Gräueln, die den Sinti im Faschismus und noch danach angetan wurden. Beispielhaft die Klarheit der Sprache, die Absenz politischer Floskeln, die Sachlichkeit der kaum zu ertragenden Fakten, die es galt, auszuhalten: Den richtigen Ton traf gleich zu Beginn Chefredakteur Hendrik Groth als Moderator: überrascht war er, als „Fremder“ in dieser „Idylle“, heil den Krieg überstanden, dieses Thema hier zu finden. „Das passte nicht hierhin. Und doch - das war brutale Vernichtung.“

Erster Bürgermeister Simon Blümcke wünschte, es sollte einfach sein, in dieser Stadt mit inzwischen Menschen aus 110 Nationen, „von Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu reden, egal, ob einer etwas anders ist. Doch leider ist dies nicht der Fall.“ Er zitierte den Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was war, aber dass es sich nicht wiederholt, dafür schon.“ Dieser Abend war dazu ein beeindruckender Baustein; der Anlass die ganz persönliche Entscheidung von Esther Sattig, ohne Forschungsmittel oder Stipendium, über den Ort des Grauens, das Barackenlager an der Schussen, November 37 bis Mai 45, zu promovieren.

Was sie, kondensiert auf 40 Minuten, vortrug an systematisch ausgefeilten Maßnahmen zur Entmenschlichung, Vertreibung, letztlich dem Genozid an der Minderheit der Sinti (Roma, Jenische und Juden in okkupierten Ländern) macht einen, bei allem, was man kennen mag über den Faschismus, fassungslos. Die emotionslose Sachlichkeit, mit der Esther Sattig vorträgt, ist umso wirksamer. Weil man die Kälte, den seelenlosen Apparat begreift, wie scheinbar einsichtige Vorurteile konstruiert, mit welchem Raffinement „wissenschaftliche“ Erkenntnisse der „Volksgemeinschaft“ präsentiert wurden und in Ängste verwandelt, über „rassenbiologische Gutachten, rassische Überfremdung, genetisch bedingte Asozialität und Kriminalität“.

Was an Sattigs Erkenntnissen so beängstigend wirkt, ist, wie am Modell Ummenwinkel, vor den Toren einer biederen, christlichen, bürgerlich- gebildeten Stadtgesellschaft, der faschistische Kontroll- und Sicherheitsstaat erprobt und eine Terror-Ideologie zu einem kollektiven Netzwerk verzahnt wurde. Bürgertum, Mittelschicht, Akademiker, Beamte, Kirchen und Unternehmer waren einbezogen. Und der kollektive Wahnsinn entstand nicht in ein paar kranken Gehirnen. Hitler, Goebbels, Himmler & Co bauten auf dem auf, was Esther Sattig lange zurück an ausgeklügelten Konstruktionen von Anti-Ziganismen fand. „Auch Intellektuelle in der Weimarer Demokratie fielen darauf herein.“

Tim Müller vom Landesverband Baden-Württemberg der Deutschen Sinti und Roma in Mannheim beleuchtete die Jahrhunderte alte Tradition des Anti-Ziganismus des christlichen Europa in Rückblicken bis 1407, wo im Heiligen Römischen Reich die „Zigeuner“ zum ersten Mal kaiserliche Schutzbriefe erhielten doch bereits 1498 zum ersten Mal „vogelfrei“ wurden.

Ganz ähnlich dem Anti-Semitismus gab es Phasen der ökonomischen wie der gesetzlich abgesicherten Teilhaben am gesellschaftlichen Leben als Gleichberechtigte, aber wieder und wieder setzten sich jene Kräfte durch, die Entrechtung und Vertreibung von Juden wie „Zigeunern“, heute unter den rechtsextremen Regimen in Osteuropa vor allem von Flüchtlingen (und Roma) zu populistisch-nationalistischen Zielen durch.

Was, so eine zentrale Frage, die man mit nach Hause nimmt, sind die Mechanismen, die über Jahr-hunderte, bis heute, auch in demokratischen Wahlen, stärker waren und sind als Aufklärung, Demokratie, humanitäre und christliche Werte?

Wie war es möglich, so Hendrik Groth, dass in der Kleinstadt Ravensburg, in der doch jeder jeden gekannt haben musste, dem kollektiven Hass sich kein Widerstand bot und, wie ein Podiumsgespräch ergab, die Ausgrenzung sich auch nach 1945 viele Jahre nur wenig subtiler als davor sich fortsetzte? Kein Wohnraum, keine Bildung, „unwürdige Entschädigungen“ für das Erlittene, wie Magdalena Guttenberger aus ihren Familien sagte. Ja, es gab einzelne Aktivisten in der Ravensburger Stadtgesellschaft, die sich mutig für die Sinti im Ummenwinkel einsetzten, auch im Gemeinderat. Aber bis in die 80er Jahre keine kollektive Verantwortung.

Die im Ummenwinkel Geborenen hatten Angst vor der Schule, lebten in einer Innen- und einer Außenwelt, die sich nicht berührten, erinnern sich Dotschy und Nathalie Reinhardt, ihr Alltag hatte noch immer den Geruch der „Duldung“. „Über Generationen wurde der Anti-Ziganismus eingeübt“, erklärte der Vorsitzende des Verbandes der Sinti und Roma.

Dies dauere in seiner Wirkung an. Ein typisches Beispiel: „Obwohl Sinti Christen sind, wurden sie nicht zur Versöhnung eingeladen, wie in den Deutsch-Christlichen Gesellschaften die Juden“. Der Mangel an speziellen Bildungsangeboten für Sinti- und Roma- Kinder, die mit den Traumata ihrer Eltern und Großeltern, so die den Holocaust überlebt hatten, wurde bewusst nicht wahrgenommen. „Die Stadt hat eine Bringschuld, denn sie vermittelte diesen Kindern Jahrzehnte lang vor allem Minderwertigkeit“, sagte er.

Diese zu überwinden ist für Dotschy und Nathalie Reinhardt im Sinti-Powerclub und im Sintiverein Ummenwinkel das Ziel: in den eigenen Milieus neue Rollen, eigene Vorbilder zu finden. „Sie sollen sich nicht länger über die Opferrolle identifizieren.“