Statt Turnhallen
Neue Leichtbauhalle für Flüchtlinge im Kreis Ravensburg
Ravensburg / Lesedauer: 6 min

Paul Martin
Die Anzahl der Asylbewerber und ukrainischen Flüchtlinge, die in Baden-Württemberg untergebracht werden müssen, steigt. Für etwas mehr als drei Prozent davon ist der Landkreis Ravensburg zuständig. Werden dafür im Winter wieder Hallenbelegungen notwendig? Und wo liegt eigentlich die Belastungsgrenze des Kreises?
Der stellvertretende Landrat und Erste Landesbeamte im Kreis, Andreas Honikel-Günter, hat darüber im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“ gesprochen.
Sie eröffnen zurzeit neue Unterkünfte für Flüchtlinge. Bringen Sie alle unter, die Ihnen das Land zuweist?
Die Zuweisungen sind im September im Vergleich zu den Vormonaten und zum September 2022 stark gestiegen. Üblicherweise bekommen wir zum Monatsanfang mitgeteilt wie viele Asylsuchende wir unterzubringen haben. Das waren für den September bereits 124. Letzten Montag haben wir erstmals eine „Nachmeldung“ von weiteren 46 Personen erhalten, da das Land den Stadt- und Landkreisen kurzfristig weitere 1500 Menschen zuweisen musste. In der Summe sind es in diesem Monat 170 Asylbewerber im Landkreis Ravensburg.
Andreas Honikel-GünterDas ist viel mehr, als wir angenommen hatten.
Hinzu kommt, dass inzwischen auch wieder mehr ukrainische Flüchtlinge ankommen als in den vergangenen Monaten. Alle Menschen unterzubringen, ist eine immense Herausforderung.
Wo bringen Sie die Menschen unter?
In eigenen oder angemieteten Bestandsimmobilien und Containeranlagen. Aktuell können wir eine Reihe von neuen Unterkünften in Betrieb nehmen. Demnächst zum Beispiel in Aulendorf, Wangen, in der Weidenstraße in Ravensburg. Auch die Leichtbauhalle auf der Burachhöhe in Ravensburg ist im Oktober bezugsfertig.
War es angesichts der steigenden Zahlen richtig, zum neuen Schuljahr die Hallenbelegung zu beenden?
Ja. Die Hallenbelegungen sind nach den Entbehrungen in der Corona-Krise nur noch schwer vermittelbar gewesen. Vereins- und Schulsport waren schon damals eingeschränkt. Die weggefallenen Kapazitäten müssen wir anderweitig aufbauen, was mühevoll ist, aber bisher überwiegend planmäßig verläuft.
Schließen Sie für den Winter Hallenbelegungen aus?
Wir wollen es auf jeden Fall vermeiden.
Ihr Mittel, um Spitzen abzudecken, wären also eher weitere Leichtbau- oder Zelthallen?
Wir treiben einerseits unsere laufenden Aufbauvorhaben mit Kraft voran, und andererseits gibt es aufgrund der vielen Unwägbarkeiten konkrete Überlegungen für eine weitere Leichtbauhalle, auch um Spitzen abzufangen. Wir sind dazu im Austausch mit der Stadt Leutkirch.
Kann man die aktuelle Situation mit den Flüchtlingswellen in den Jahren 2015/2016 vergleichen?
Mit Blick auf diese beiden Jahre spricht man gerne von „der“ Flüchtlingskrise. Die aktuelle Situation ist aber ähnlich. Nur mit dem Unterschied, dass wir uns bereits seit Herbst 2021 in einer krisenhaften Situation befinden. Es dauert also schon lange an. In den Jahren 2015/2016 war es eher ein kompaktes Zeitfenster.
Was kommt in den nächsten Monaten auf den Landkreis Ravensburg zu?
Niemand rechnet mit sinkenden Zahlen. Wir glauben, dass sie weiter steigen werden. Verlässliche Prognosen gibt es aber nicht. Unsere eigenen Prognosen beruhen auf den Nachrichten, den statistischen Veröffentlichungen von EU und Bund sowie auf Erfahrungswerten zum saisonalen Verlauf. Wir passen diese permanent der aktuellen Lage an.
Wie stemmen Sie das?
Vergangenes Jahr haben wir uns nicht anders zu helfen gewusst, als innerhalb des Landratsamts kurzfristig Personal umzuschichten. Der Kreistag hat uns zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zusätzliche Stellen gewährt. Inzwischen sind fast alle besetzt. Wir sind sehr froh, hier im Landratsamt eine kompetente und engagierte Mannschaft zu haben. Stolz bin ich aber auch auf unsere Städte und Gemeinden, zeitversetzt kommen die Menschen aus der vorläufigen Unterbringung schließlich zu ihnen. Bedanken möchte ich mich auch bei den Hilfsorganisationen und den Trägern der freien Wohlfahrtshilfe, genauso wie die vielen Ehrenamtlichen.
Wie wirken sich steigende Flüchtlingszahlen auf die Finanzen des Landkreises Ravensburg aus?
Wir schauen, dass wir alles mit dem Land Baden-Württemberg abrechnen können ‐ egal, ob Unterkünfte oder Personal. Das wird genau geprüft, aber durch gute Abstimmungen im Vorfeld gewinnen wir die Planungssicherheit, die wir brauchen.
Gelingt die Integration im Landkreis Ravensburg?
Nichts ist so gut, dass es nicht besser werden könnte. Wir hatten hier bisher glücklicherweise keine gravierenden Vorfälle. Kein Illerkirchberg, nichts Vergleichbares (in der Gemeinde im Alb-Donau-Kreis kam es zu einer Gruppenvergewaltigung einer Minderjährigen durch mehrere und zu einem Messermord durch einen Asylbewerber, Anm. d. Red.). Unser Jobcenter ist sehr aktiv, die Menschen auf der Suche nach Arbeit zu unterstützen. Im Wesentlichen gelingt Integration bei uns schon ‐ aber sie kostet Geld. Wir brauchen hierfür die starke Unterstützung von Bund und Land. Und es ist eine Daueraufgabe. Sie erfordert Anstrengungen auf Seiten derer, die zu uns kommen, aber auch von uns als Aufnahmegesellschaft.
Etwas mehr als 3 Prozent der Asylbewerber, die auf das Land Baden-Württemberg entfallen, muss der Landkreis Ravensburg aufnehmen. In jüngster Zeit gibt es wieder Debatten um Obergrenzen. Wo liegt die Belastungsgrenze des Kreises?
Eine Zahl kann ich nicht nennen. Denn mit dem Dach über dem Kopf ist es nicht getan. Aber wenn ich die Stimmung wahrnehme, bei uns, bei den Städten und Gemeinden und in der Bevölkerung, dann ist diese Belastungsgrenze zunehmend erreicht. Bei der Integration merken wir überall: Die Möglichkeiten unserer Infrastruktur sind weitgehend ausgeschöpft. Egal, ob bei Kindergärten, Schulen, Sprachkursen oder der ärztlichen Versorgung. Das ist die nüchterne Bestandsaufnahme.
Baden-Württemberg hat im vergangenen Jahr mehr Asylbewerber und Ukrainer aufgenommen als ganz Frankreich...
Man muss sich schon fragen, warum Deutschland ein so attraktives Ziel ist. Um das Thema, welche Leistungen es in welchen Ländern gibt, kommt man bei der Frage nicht herum. Aus meiner Sicht muss man zu einheitlichen Standards kommen, natürlich nicht über fixe Beträge, sondern unter Berücksichtigung der Kaufkraft vor Ort. Aber im Moment sind die Unterschiede innerhalb der EU zu groß.
Was müsste sich ändern?
Ich glaube, dass unser Einwanderungssystem eine andere Struktur braucht.
Das klingt nach dem Vorschlag des CDU-Politikers Thorsten Frei, das Grundrecht auf Asyl einzuschränken.
So weit würde ich nicht gehen. Ich denke, Deutschland hat gute Gründe, das Grundrecht auf Asyl sehr ernst zu nehmen. Schutzbedürftige müssen Schutz erhalten. Wir sollten aber besser differenzieren zwischen Flucht und Arbeitsmigration. Es kommen viele Menschen zu uns, die von vorneherein keinen Bleibeanspruch haben. Wir benötigen einen guten Überblick an den Außengrenzen. Abschiebungen müssen effektiver werden. Deutschland braucht funktionierende Rückführungsabkommen mit den Hauptherkunftsstaaten. Bei der Arbeitsmigration hilft meines Erachtens ein Blick auf die echten Einwanderungsländer USA und Kanada.
Ihr Appell an die Bundesregierung lautet also?
Dass es ein auf EU-Ebene abgestimmtes, steuerndes und die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit berücksichtigendes Asyl- und Einwanderungssystem braucht.