Gesellschaftsjahr
Rettet Gesellschaftsjahr das Gesundheitssystem? Soziale Träger und Politik diskutieren
Ravensburg / Lesedauer: 4 min

Die Krankenhäuser sind wegen der vielen Atemwegserkrankungen überlastet, sogar Kinderkrankenstationen sind voll. Parallel verschärft sich die Pflegekrise. Auch deswegen flammt in diesem Winter wieder die Debatte um ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr nach Vorbild des Zivildienstes auf.
Zwei der größten Sozialunternehmen der Region, die St.-Elisabeth-Stiftung mit Hauptsitz in Bad Waldsee und die Zieglerschen aus Wilhelmsdorf, sprechen sich aktuell verstärkt für den sozialen Pflichtdienst aus. Die Botschaft: Es braucht dringend mehr Nachwuchs. Ein Zwang bewirke genau das genau Gegenteil, halten Bundestagsabgeordneter Benjamin Strasser und die Jugendorganisation der SPD im Kreis Ravensburg dagegen.
Was ist das verpflichtende Gesellschaftsjahr?
Das verpflichtende Gesellschaftsjahr ist bisher lediglich eine politische Idee und wird beispielsweise vom Pflegerat und der CDU unterstützt. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier plädierte im November für den Pflichtdienst. Junge Frauen und Männer sollten mindestens einmal in ihrem Leben für eine gewisse Zeit aus ihrem gewohnten Umfeld herauskommen, sagte Steinmeier.
„Und sich den Sorgen ganz anderer Menschen widmen.“
Das Gesellschaftsjahr würde für Jugendliche bedeuten, dass sie sich nach dem Schulabschluss für einen Pflichtdienst entscheiden müssen. Sei es in der Medizin, Pflege oder bei ökologischen, sozialen und kulturellen Trägern. Auch ein Dienst bei der Bundeswehr soll möglich sein.
Was sind die Argumente der Zieglerschen und der St.-Elisabeth-Stiftung für ein Gesellschaftsjahr?
In der Region zeigt sich der Fachkräftemangel im sozialen und pflegerischen Berufen beispielsweise an den 276 offenen Stellen, die aktuell bei den Zieglerschen ausgeschrieben sind. Die Belastungen für die Mitarbeiter habe sich dadurch massiv verschärft, betont der Vorstandsvorsitzende der Zieglerschen, Gottfried Heinzmann.
Er und Andrea Thiele , vom Vorstand der St.-Elisabeth-Stiftung, glauben, dass das Gesellschaftsjahr diese Notlage entschärfen kann. Natürlich seien sich alle Befürworter bewusst, dass ein Jugendlicher während seines Gesellschaftsjahres keine Fachkraft ersetzen kann, so Thiele. Aber man wisse aus der Erfahrung mit dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), dass junge Menschen eine wichtige Unterstützung in den Einrichtungen sein können.

Das Pflichtjahr habe jedoch noch eine viel bedeutendere Auswirkung: Neue Berührungspunkte junger Menschen mit sozialen Berufen. „Wir beobachten immer wieder, dass junge Erwachsene sich im Anschluss an die Freiwilligenzeit bewusst für einen Beruf in der Pflege entschieden“, sagt Heinzmann.
Von 65 FSJ-Absolventen hätten vergangenes Jahr 25 eine Ausbildung bei den Zieglerschen begonnen, so Heinzmann. Durch ein Pflichtjahr würde diese Zahl weiter steigen, so die Hoffnung. Wichtig sei jedoch, dass das Gesellschaftsjahr so flexibel wie möglich angeboten werde, sagt Thiele. Und die Entlohnung der jungen Erwachsenen „in Richtung Mindestlohn“ gehe.
Ein Gesellschaftsjahr würde zudem mehr Gemeinsinn, Hilfsbereitschaft und soziale Durchlässigkeit schaffen, sagt Thiele. Wer einen Pflichtdienst in einer sozialen Einrichtung leiste, „wird die Welt anders sehen“. Von dieser erweiterten Sichtweise profitiere jeder und jede selbst, sagt Thiele – „vor allem profitiert aber die Gesellschaft“.
Was entgegnen Strasser und die Jusos im Kreis?
In ganz Deutschland und auch hier im Kreis Ravensburg argumentiert die Jugendorganisation der SPD als eine der lautesten Stimmen gegen ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr. Er könne den Gedanken, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, durchaus nachvollziehen, sagt Juso-Kreisvorsitzender Antonio Hertlein.
„Das sollte aber auf freiwilliger Basis erfolgen.“ Einen jungen Menschen zu einem Pflichtdienst zu „verdonnern“, würde nicht den erhofften Effekt haben, so Hertlein „Wenn wir junge Leute dazu zwingen, Jura-Vorlesungen anzuhören, würden die sich deswegen doch nicht für ein Jura-Studium entscheiden.“ Ganz im Gegenteil: Der Zwang würde laut Hertlein eher eine Abwehrhaltung auslösen.
Hertlein widerspricht auch der Argumentation, der Gesellschaftsdienst könnte den Gesundheitsbereich aus der Krise befördern. „Aus meiner Sicht, sollte das Gesundheitssystem nicht von Menschen im Pflichtdienst abhängig sein.“ Es brauche eine Fachkräfteoffensive und kein Gesellschaftsjahr.


Ähnlich argumentiert FDP-Bundestagsabgeordneter Benjamin Strasser aus Berg. Angesichts des Fachkräftemangels wäre es fahrlässig, dem Arbeitsmarkt 700.000 junge Erwachsene pro Jahr vorzuenthalten, schreibt er als Antwort auf den offenen Brief der St.-Elisabeth-Stiftung.
Aus Sicht der Jusos im Kreis sollten stattdessen die Rahmenbedingungen für das FSJ und den Wehrdienst verbessert werden. Viele Jugendliche könnten sich ein FSJ wegen der Vergütung von ein paar Hundert Euro pro Monat gar nicht leisten, so Hertlein. Freiwillige seien von ihren Eltern abhängig. Andere, mit weniger finanziellen Mitteln, könnten sich gar ein FSJ gar nicht erst leisten. Strasser ergänzt: „Wichtig ist mehr Wertschätzung für junge Menschen, die einen Freiwilligendienst leisten.“