Bärengarten
Flüchtlinge aus der Ukraine kommen in Ravensburg an
Ravensburg / Lesedauer: 6 min

Der Schrecken des Krieges in der Ukraine wird spürbar, als der Doppeldeckerbus des Regionalverkehrs Alb-Bodensee (RAB) am Samstagabend vor dem Bärengarten in Ravensburg hält. Menschen, die vor dem Krieg in ihrer Heimat fliehen mussten, steigen aus.
Mütter mit Babys und Kleinkindern, junge Frauen, wenige Ältere, kaum Männer, alle mit nur kleinem Gepäck und ausdrucksloser Miene. 17 Stunden waren sie unterwegs. Am Eingang zum Bärengarten-Restaurant erhalten sie eine Willkommenstasche mit wichtigen Informationen über Ravensburg in ihrer Sprache und einen Gutschein der Firma Bredl. An den Tischen servieren der Wirt Amir Pucurica und seine Helfer Lasagne, Salat und Getränke.
Eine traurige Fahrt in gedrückter Stimmung
Tags zuvor gegen, 23 Uhr, war der Bus aus Ravensburg in Kosice in der Slowakei, 70 km von der ukrainischen Grenze entfernt, gestartet. Thomas Kollmus , einer der vier Fahrer, schildert müde, aber glücklich über die gesunde Heimkehr, seine Eindrücke. Im Bus habe es Essen, Trinken und sogar Spielsachen für die Kinder gegeben. Es sei eine traurige Fahrt in gedrückter Stimmung gewesen.
Marc Ertl, Produktionsleiter bei RAB-DB hatte nicht nur den Bus zur Verfügung gestellt, sondern auch die Sprit-, Maut- und Personalkosten übernommen. Kollmus lässt kurz seinen Ärger über den dreieinhalbstündigen Aufenthalt an der bayerischen Grenze wegen „Grenzkontrollen auf Anweisung der Bundespolizei “ raus – alle benötigten Bescheinigungen, einschließlich negativer Corona-Tests hätten vorgelegen –, dann sagt er: „Jetzt freu ich mich auf den Zwiebelrostbraten meiner Frau!“
Alle 20 Kleinkinder und 30 Erwachsenen fanden Unterschlupf bei Ravensburger Gastfamilien. Dass diese beispielhafte Aktion von der Aufnahme in Kosice bis zur Unterbringung in Familien aus Ravensburg und Umgebung so reibungslos geklappt hat, ist vor allem dem Service-Club Round Table (RT) und seinem Netzwerk zu verdanken.
Das Ehepaar Ondrejcik aus Baienfurt hatte vor zwei Wochen bereits eine Fahrt mit Sprintern und Hilfsgütern nach Kosice initiiert und dort neun Flüchtlinge aufgenommen. Nun bat er Round Table um Hilfe.
So entstand die Hilfsaktion
Sabine Schrey , Lehrerin aus Ravensburg, hatte, als der Blaserturm in blau-gelb erstrahlte, die Idee: „Ja, wir haben Türme in der Stadt, aber jetzt brauchen wir eine Brücke!“ Und so wurde vor zwei Wochen die Idee geboren. Round Table verstand es hervorragend, die sich anbietenden Kräfte zu bündeln, wie Felix Wurm, Sprecher von RT erklärt.
In Kooperation mit GnW (Gemeinsam neue Wege), den Initiatoren aus Baienfurt, der Stadt Ravensburg, Sabine Schrey und anderen Freiwilligen entstand das Portal „Power-Bridge Oberschwaben/ Hilfe, die ankommt“. Hier werden Geld- und Sachspenden gesammelt und Gastgeber für Flüchtlinge – auch weiterhin – gesucht. Ein Schichtplan informiert Menschen, die mithelfen wollen.
Da die Kontakte zur Slowakei bereits bestanden, beschloss man, Menschen, die aus der Ukraine bis dorthin gelangt waren, nach Ravensburg zu holen. Mit Flyern und einem Film über Ravensburg informierten Helfer vor Ort über die Stadt, von der keiner der Menschen dort je gehört hatte.
Sabine Schrey übernahm das Thema Unterbringung. Sie erstellte unermüdlich Listen von Gastgebern und Ukrainern, schaute jedes Quartier an und konnte erst einen Tag vor Ankunft des Busses die Verteilung endgültig klären.
Martin RiethmüllerEs ist großartig, was eine Gesellschaft leistet, wenn man zusammensteht.
„Ich bin ziemlich aufgeregt“, sagt Martin Riethmüller, der Koordinator von Round Table bei seiner kurzen Begrüßungsansprache, die eine junge Frau übersetzt. Er, der wie er sagt, in der letzten Zeit kaum geschlafen habe, heißt die Gäste ebenso wie Stefan Goller-Martin von der Stadt Ravensburg herzlich willkommen und bietet Hilfe und Beratung an.
Später sagt er: „Wir waren der erste Konvoi, der aus dieser Region in das Krisengebiet gefahren ist, und wir erleben jetzt diese enorme Hilfsbereitschaft. Es ist großartig, was eine Gesellschaft leistet, wenn man zusammensteht.“
Ravensburger nehmen Ukrainer auf
Iris Rückgauer ist eine der Gastgeberinnen, die bereit ist, ganz konkret zu helfen. Von ihren vier Kindern sind zwei schon ausgezogen. Sie stellt einer Mutter mit Tochter Wohnraum zur Verfügung. Noch sind die beiden ihr fremd, aber sie hat volles Vertrauen in die hervorragende Organisation von Power-Bridge, die sich auch um Ärzte, Schule und Dolmetscher kümmert.
Ja, die eigene Tür zu öffnen sei ein mutiger Schritt, meint sie. Aber der Familienrat habe es einstimmig beschlossen. Es dauert nicht lang, bis sich ein leises Lächeln auf dem Gesicht von Mutter Inna (39) und Tochter Sonya (14) zeigt. Seit einer halben Stunde sitzen sie neben der Frau, die ihnen vorübergehend Heimat geben wird. Für wie lange?
Aus ihrer Heimatstadt Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, mussten sie fliehen, der Vater blieb beim Großvater zurück. Ihre Schule hat Sonya seit dem Tag des Kriegsbeginns nicht mehr gesehen.

Auch die 20-jährige Dilara kommt aus Charkiw, wo ihr Arbeitsplatz war. Die zarte junge Frau mit den großen braunen Augen ist allein auf die Flucht gegangen. Ihre Eltern und Geschwister leben noch in Kellern in einer umzingelten Kleinstadt, ohne Strom, ohne Essen.
Sie wolle hier schnell Deutsch lernen, sagt sie, und erstmal ihrer Ersatzmutter im Haushalt und mit den Kindern helfen. Jana Amm, die Kinder im Alter von einem, vier und sechs Jahren hat, nimmt sie gerne auf. Sie wiegt gerade das Baby einer jungen Ukrainerin, die mit am Tisch sitzt, blass, mit Augenringen, dankbar für diese Entlastung.
Der Schrecken ist sichtbar
Eine andere Familie stochert gedankenverloren im Essen. Mit drei kleinen Kindern haben die Eltern eine Woche im Keller ihres zerstörten Hauses ausgehalten. Ein kleiner Junge an einem anderen Tisch hat nur wenig gegessen und dann seinen Kopf in den Armen auf dem Tisch vergraben. Er reagiert kaum auf die Berührung seiner Mutter, man weiß nicht, ob er weint, ob er müde ist oder einfach nichts sehen und nichts hören möchte.
Die ersten Menschen haben den Raum mit ihren Gastgebern verlassen. Alles geht komplikationslos und leise vonstatten. Zwei Ukrainerinnen greifen zum Mikrofon und bedanken sich für den herzlichen Empfang, immer wieder von Tränen gebremst. Tränen aber auch bei dem ein oder anderen Helfer. Tränen der Erleichterung, das alles geklappt hat, aber mehr noch Tränen über das schreckliche Leid, das gerade mitten unter uns in Europa geschieht.