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Impfschaden

Corona: Impfschäden und Nebenwirkungen werden vermutlich selten gemeldet

Ravensburg / Lesedauer: 9 min

Schwere Nebenwirkungen nach Covid-Impfungen sind nach den Zahlen des Paul-Ehrlich-Instituts selten. Doch womöglich werden sie nur selten gemeldet. Betroffene fühlen sich nicht ernst genommen.
Veröffentlicht:15.05.2022, 18:50

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Sie war eine der ersten. Schon im Februar 2021 bekam die 58-Jährige die Impfung, die sie vor einer Covid-Erkrankung schützen sollte. Doch seither ist nichts mehr, wie es war. Schon nach der ersten Impfung hatte sie viele Beschwerden, nach der zweiten nahmen Müdigkeit und Schweregefühl stark zu, hielten über Wochen an. Einer dritten Impfung hat sie nur unter großem Druck zugestimmt. Sie hatte Angst, da sie seit Jahren an mehreren Allergien leidet: „Impfung oder Arbeitsplatz. Das waren die Alternativen“, sagt Carola B., die damals in einem Gesundheitsberuf gearbeitet hat. Kopf- und Gliederschmerzen, Halsschmerzen, innere Unruhe, Herzrasen, zunehmende Schwere im ganzen Körper – so beschreibt sie die Folgen ihrer Booster-Impfung mit dem Biontech-Impfstoff. Nach ihrem Urlaub begann Carola B. wieder zu arbeiten, brach jedoch vier Tage später zusammen mit brennenden Muskelschmerzen, Schwächegefühl und Sensibilitätsstörungen. Seither ist die Pflegerin krankgeschrieben mit Verdacht auf „leichte Polyneuroathie“, eine Nervenkrankheit.

Auch Sabine M., 52 Jahre alt, hat seit ihrer Impfung mit dem mRNA-Impfstoff Biontech schwere gesundheitliche Einschränkungen. Knapp einen Monat nach ihrer zweiten Impfung erlitt sie einen Zusammenbruch, musste ins Krankenhaus. Die Diagnose: „Lungenembolie, Venenthrombose, Blutanämie, Zwerchfellbruch“. Seit sieben Monaten ist die Frau krankgeschrieben, bezieht 600 Euro Krankengeld, hat hohe Zuzahlungen für Medikamente. Sie hat bis heute Probleme beim Gehen, ist kurzatmig, hat Magen-Darm-Beschwerden, muss blutverdünnende Medikamente einnehmen.

Selbsthilfegruppe in Tübingen hat 15 Mitglieder

Das sind zwei Beispiele aus der Selbsthilfegruppe zu Nebenwirkungen nach einer Corona-Impfung, die sich Mitte Januar in Tübingen gegründet hat. 15 Menschen tauschen sich dort über ihre gesundheitlichen Probleme aus, die sie seit der Impfung quälen. Viele Anfragen aus dem ganzen Bundesgebiet kommen dort an. Gemeinsam haben alle Betroffenen eins: Sie fühlen sich von ihren Ärzten nicht ernst genommen, werden von Kliniken abgewiesen, wissen nicht, an wen sie sich wenden können.

Wer unter Impfnebenwirkungen leidet, wird schnell als Querulant abgetan. Denn schließlich hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf Twitter im August 2021 die Covid-Impfung als „nebenwirkungsfrei“ bezeichnet.

Paul-Ehrlich-Institut erfasst Verdachstfälle

Der Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) weist indessen Nebenwirkungen aus. Das Bundesinstitut hat die Aufgabe, Verdachtsfallmeldungen zu Nebenwirkungen und Impfkomplikationen bei den zugelassenen Covid-19-Impfstoffen zu erfassen und zu bewerten. Nach PEI-Zahlen wurden 2021 insgesamt 148,8 Millionen Impfungen durchgeführt. Davon wurden 244 576 Verdachtsfälle einer Nebenwirkung dem PEI gemeldet. Die Melderate betrug demnach für alle Impfstoffe zusammen 1,64 Meldungen pro 1000 Impfdosen, für schwerwiegende Reaktionen 0,20 Meldungen pro 1000 Impfdosen. Nebenwirkungen sind demnach selten.

Doch es mehren sich Zweifel, ob überhaupt alle Verdachtsfälle gemeldet werden. Auf eine Untererfassung hat vor Kurzem der Medizinprofessor Harald Matthes aufmerksam gemacht. Matthes ist ärztlicher Leiter des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe in Berlin und Stiftungsprofessor am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité Berlin. Er geht davon aus, dass 70 Prozent der Impfnebenwirkungen gar nicht erfasst werden. Eine von ihm geleitete Befragung von 40 000 Geimpften ergab eine deutlich höhere Rate an Nebenwirkungen als offiziell erfasst. Diese Studie wird allerdings wissenschaftlich angezweifelt.

Zu den schweren Nebenwirkungen zählt Matthes Symptome, die über Wochen oder Monate anhalten und medizinische Behandlung erfordern. Dazu gehören Muskel- und Gelenkschmerzen, Herzmuskelentzündungen, überschießende Reaktionen des Immunsystems und neurologische Störungen.

Meldungen sind umständlich und zeitaufwendig

Auch die Tübinger Ärztin Lisa Federle hat auf eine mögliche Untererfassung von Impfnebenwirkungen aufmerksam gemacht. Sie kritisierte kürzlich in einem Interview mit dem „Reutlinger Generalanzeiger“, es gebe zu wenige Daten dazu. Ärzte könnten Impfnebenwirkungen, die über einen schmerzenden Arm hinausgingen, an das Paul-Ehrlich-Institut melden, sagte Federle. „Eine Kollegin hat mir allerdings erzählt, sie habe über eine Stunde mit dem Formular auf der entsprechenden Seite gekämpft, um das eintragen zu können. Dafür hat man als Arzt aber keine Zeit. Da schrecken viele davor zurück und machen das nicht. So etwas muss unkompliziert gehen.“

Das bestätigt auch Christian Eick , Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie in Rottenburg: „In Deutschland werden Nebenwirkungen zu selten gemeldet“, sagt der Arzt im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Er selbst melde auffällige schwere Nebenwirkungen, die nach einer Impfung auftreten, wie Herzschwäche oder Herzrhythmusstörungen. Seit vergangenem Sommer sei die Zahl der Neupatienten nach Herzinfarkt oder Schlaganfall in seiner Praxis deutlich gestiegen. Mehr als 120 Fälle von schwerwiegenden Nebenwirkungen nach einer Corona-Impfung registrierte der Kardiologe seit Mitte 2021.

Beschwerden ähneln den Long-Covid-Symptomen

Ein weites Feld seien außerdem die vielen „unspezifischen Beschwerden“, die Patienten nach einer Impfung spüren und die Eick mit den Long-Covid-Symptomen vergleicht. „Die kann ich gar nicht alle melden“, erklärt der Arzt. Das würde er zeitlich nicht schaffen, weil es mehrere Meldungen am Tag wären. Das Hauptproblem sei jedoch, dass es keinerlei Standards gebe, welche Beschwerden und Symptome überhaupt gemeldet werden müssen und welche nicht: „Das ist alles zu schwammig formuliert.“ Darin sieht er die Gründe, warum in Deutschland Nebenwirkungen zu selten erfasst werden.

Die von Facharzt Eick beschriebenen Symptome werden als „Long-Covid nach Impfung“ oder als „Post-Vac-Syndrom“ bezeichnet. „Daran leiden alle Betroffenen in der Selbsthilfegruppe“, sagt Barbara Herzog. Sie leitet die Kontaktstelle Selbsthilfe im Sozialforum Tübingen. Die Menschen, die in ihrer Gruppe Austausch suchen, haben häufig schon einen Ärztemarathon hinter sich. Viele Mediziner würden es ablehnen, einen Zusammenhang mit der Impfung festzustellen.

Die Universitätsklinik Tübingen hat zwar eine Post-Covid-Ambulanz eingerichtet, doch dort würden nur diejenigen behandelt, die eine Corona-Infektion hinter sich haben. Ohne PCR-Test bekam sie keinen Termin, beklagt eine 28-jährige Frau aus der Gruppe. Die Uniklinik Tübingen bestätigt das auf Anfrage: „Die Post-Covid-Ambulanz ist die Anlaufstelle für Patienten, die nach einer Corona-Infektion längere Zeit noch an Symptomen leiden“, erklärt eine Sprecherin. Bei Impfnebenwirkungen sei jedoch der Hausarzt der erste Ansprechpartner.

Professor sieht indirekten Zusammenhang

Anders an der Universitätsklinik Marburg: In der dortigen Long-Covid-Ambulanz werden auch Patienten behandelt, die keine Corona-Infektion hatten, jedoch nach einer Impfung an den für Long Covid typischen Symptomen leiden, wie Müdigkeit, Schwäche, Nervenschmerzen, Schwindelgefühle, Lähmungen oder Herzkreislauf-Probleme. Mehrere Hundert Mails aus ganz Deutschland bekomme er am Tag, sagte der Leiter, Professor Bernhard Schieffer, kürzlich in einem MDR-Interview.

Allerdings sei, so erklärte Schieffer, der Zusammenhang mit der Impfung nur indirekt. Die Impfung würde einen immunologischen Prozess in Gang setzen, „der so stark ist, dass der Körper auf einmal die Kontrolle über andere Virusinfektionen oder andere immunologische Defekte verliert, die er vorher beherrscht hat“, so Schieffer. Er geht von vielen Tausenden solcher Fälle in Deutschland aus.

Ärzte stehen vor einem „sehr komplexen Thema“, sagt der Rottenburger Arzt Eick. Es sei extrem schwierig, einen Impfschaden eindeutig nachzuweisen. Ein Impfschaden ist laut Robert-Koch-Institut „die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung“. Das Paul-Ehrlich-Institut zählt dazu Herzmuskelentzündungen, Thrombosen und das Guillain-Barré-Syndrom, eine akute Entzündung des Nervensystems.

Impfschäden sind sehr schwer nachzuweisen

Doch selbst wenn eine dieser, laut PEI, „sehr seltenen“ Krankheiten vorliegt, heißt es noch nicht, dass die Betroffenen eine Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz tatsächlich erhalten. Der zeitliche Zusammenhang der Schäden mit einer Impfung beweise noch nicht die Kausalität, erklärt Susanne Jörgens, Fachanwältin für Sozial- und Medizinrecht in Stuttgart. Sie befasst sich seit Jahrzehnten mit Impfschäden und vertritt aktuell unter anderem eine Ärztin, die auch selbst ihre Patienten gegen Covid geimpft hat, also „keine Impfgegnerin“ ist. Seit ihrer eigenen Impfung im März 2021 leidet sie an mehreren Beinthrombosen und an dem Post-Vac-Syndrom. Sie kann nur eingeschränkt arbeiten.

Damit würde sie zumindest eine wesentliche Voraussetzung erfüllen, um Versorgungsleistungen nach dem Infektionsschutzgesetz zu erhalten: Die gesundheitlichen Einschränkungen dauern bereits länger als sechs Monate an.

Geschädigte können Antrag beim Landkreis stellen

Grundsätzlich können solche Geschädigten einen Antrag beim Versorgungsamt ihres Landkreises stellen. Doch der Weg, bis tatsächlich Geld fließt, ist lang und steinig: „Man muss nachweisen, dass es eine Erstschädigung durch die Impfung gab und daraus Folgeerkrankungen entstanden sind“, erklärt Fachanwältin Jörgens.

„Wer kann bei einer Beinthrombose schon ausschließen, dass er irgendwann im Leben geflogen ist?“, erklärt die Anwältin das Problem. Bei Frauen, wie der 60-jährigen Ärztin, stelle sich zudem die Frage, ob sie früher die Pille genommen haben. Denn auch das erhöhe das Thromboserisiko. „Die Struktur des Gesetzes macht es extrem schwierig, einen Schaden nachzuweisen“, sagt Jörgens.

Bisher gingen laut Sozialministerium bei den Versorgungsämtern des Landes 255 Anträge im Zusammenhang mit einer Corona-Impfung ein. Ende März lagen noch 241 offene Anträge vor. Zwei Anträge wurden bewilligt, fünf Anträge abgelehnt, sieben Anträge haben sich aus sonstigen Gründen erledigt.

Ravensburger Anwalt spricht von „juristischem Neuland“

Auch der Ravensburger Fachanwalt für Medizinrecht Jochen Beyerlin vertritt Patienten, die nach einer Covid-Impfung gesundheitliche Einschränkungen haben. Er spricht von „juristischem Neuland“. Wenn ein Antrag auf Versorgungsleistungen abgelehnt wird, komme eine Klage auf Schadenersatz infrage, sofern dem behandelnden Arzt Behandlungs- oder Aufklärungsfehler nachgewiesen werden könnten. Die Höhe sei dann nicht gedeckelt. Versorgungsleistungen sind dagegen begrenzt: „Die einkommensunabhängige Grundrente für Beschädigte beträgt derzeit zwischen 156 Euro und 811 Euro. Hinterbliebene erhalten vergleichbare Leistungen“, antwortet das Ministerium.

Beyerlin hat bisher zehn Anfragen von Impfgeschädigten aus dem Umkreis erhalten. „Es handelt sich ausnahmslos um Impfschäden nach der dritten Impfung“, sagt Beyerlin. Unverbindliche telefonische Anfragen gebe es inzwischen auch bundesweit.

Wer einen Antrag auf Versorgungsleistungen stellt, sollte „zunächst zu einem niedergelassenen Arzt oder in ein Krankenhaus gehen, um eine professionelle Meinung und Diagnostik einzuholen“, teilt das Sozialministerium auf Anfrage mit. Doch genau da beginnt für viele Betroffene das Problem: „Meine Hausärztin sieht keine Verbindung zur Impfung und lehnt eine Meldung ab“, sagt Sabine M.