Unvereinbarkeit
Angenehm zivilisierte Diskussion über Gerechtigkeit
Ravensburg / Lesedauer: 3 min

Schwäbische.de
Angela Merkel lehnt ein Bündnis mit Jürgen Trittin kategorisch ab, Katrin Göring-Eckardt kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit Horst Seehofer zusammenzuarbeiten. Es grassiert vor der Bundestagswahl am Sonntag die schwarz-grüne Ausschließeritis. Ein Symptom: unablässiges Betonen der Unvereinbarkeit von schwarzer und grüner Politik. Ex-Greenpeace-Chef Gerd Leipold (62) und der als konservativ geltende Historiker Michael Wolffsohn (66) haben auf dem Podium bei der Schwäbischen Zeitung dagegen den Eindruck erweckt, dass es durchaus Kompromisslinien zwischen den gefühlten Antipoden gibt. Kompromisslinien, die vielleicht tragfähiger sind, als es Parteipolitiker vor einer so großen Wahl mit so klaren Koalitionsaussagen zugeben wollen und dürfen.
Wolffsohn und Leipold sind keine Parteipolitiker und waren auch nicht als etwaige Parteigänger von Regierung und Opposition zur Schwäbischen Zeitung eingeladen worden. Vielmehr sollten die beiden Männer mit den so unterschiedlichen Lebensläufen über den oft verwendeten und selten konkretisierten Begriff der Gerechtigkeit diskutieren. Sie taten dies im Gegensatz zu den üblichen Gästen in den diversen Polit-Talkshows angenehm zivilisiert, konstruktiv und mit merklichem Respekt vor den Standpunkten des jeweils anderen.
Der Streitbare und der Weltbürger
Michael Wolffsohn, der streitbare – böse Zungen behaupten: bisweilen streitsüchtige – emeritierte Geschichtsprofessor aus München. Gerd Leipold, der ehemalige Greenpeace-Aktivist und Weltbürger aus Rot an der Rot. Michael Wolffsohn, der einer Ausrichtung konkreten politischen Handelns an einem wenig greifbaren Ideal wie Gerechtigkeit skeptisch begegnet. Gerd Leipold, der fest an die treibende, positiv-subversive Kraft einer Idee von Gerechtigkeit glaubt.
Eine nicht unbedingt zu erwartende Synthese gelang den Diskutanten auf einem Umweg. „Wir sollten lieber über Ungerechtigkeit reden“, schlug Leipold vor. Wolffsohn nahm den Ball auf: „Konkrete Ungerechtigkeit ist viel schneller identifizierbar als eine abstrakte Gerechtigkeit.“ So gelangten Wolffsohn und Leipold auf eine Ebene, auf der es nicht darum geht, politisches Handeln auf eine je nach Überzeugung unterschiedlich idealisierte Zukunft auszurichten. Vielmehr ging es darum, vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Geschichte die Gegenwart zu analysieren und zu bearbeiten. Auf dieser Arbeitsebene ist der Kompromiss zu Hause, den anzudeuten die Wahlkampfstrategen aller Parteien ihrem Spitzenpersonal vor dem Urnengang verboten haben. „Die Märkte sind nicht per se ungerecht“, sagte Michael Wolffsohn etwa. „Wir müssen aber immer wieder hinschauen und haben ja die Möglichkeit einzugreifen und Auswüchse zu korrigieren“, meinte er mit Blick auf die Entwicklung der Gehälter in der Bundesrepublik Deutschland. Auf die Gerd Leipold stolz ist. „Aber gerade weil ich stolz bin auf dieses Land, muss ich auch die ungerechten Seiten sehen“, sagte er. „Und Stundenlöhne von fünf Euro sind ungerecht.“ Leipolds Lösung hört sich an wie Wolffsohns: „Wir müssen immer wieder hinschauen und haben ja die Möglichkeit einzugreifen.“
Natürlich, wenn zwei Typen wie Leipold und Wolffsohn das Gleiche sagen, meinen sie noch längst nicht dasselbe. Aber sie haben mitten im Wahlkampfgetöse ein Beispiel gegeben, wie eine Verständigung zwischen politischen Lagern konstruktiv funktionieren kann. Am Ende gab es sogar eine gemeinsame Wahlempfehlung für kommenden Sonntag: „Gehen Sie wählen“, sagte Michael Wolffsohn. Gerd Leipold nickte.