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Patienten sind überrascht

Lindauer HNO nimmt keine Kassenpatienten mehr

Lindau / Lesedauer: 5 min

Eigentlich behandelt der Hals–Nasen–Ohren–Arzt pro Tag bis zu 80 Kassenpatienten. Doch jetzt nimmt er nur noch Privatpatienten und Selbstzahler. Warum er die Reißleine zieht.
Veröffentlicht:30.05.2023, 18:30
Aktualisiert:31.05.2023, 08:19

Von:
  • Barbara Baur
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Eigentlich sind die 32–jährige Lindauerin und ihre zwei Jahre alte Tochter pünktlich. Sie sind sogar ein paar Minuten vor der Zeit, als sie bei der Hals–Nasen–Ohren–Arzt–Praxis von Thomas Erl in Lindau ankommen. Doch auf einem Aushang an der Tür liest die Mutter, dass die Praxis seit Mai keine Kassenpatienten mehr behandelt. Dabei hatte sie sieben Wochen auf den Termin für ihre Tochter gewartet.

Aus akutem Personalmangel werde die Praxis bis auf weiteres als Privat– und Selbstzahlerpraxis weitergeführt, heißt es auf dem Aushang. Und weiter: „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir Ihren Termin aufgrund der Situation leider nicht stornieren konnten.“

Für die Mutter ist das eine herbe Enttäuschung. „Das finde ich schon wild“, sagt sie. Schließlich habe sie den Termin nicht nur Wochen im Voraus vereinbart, sondern auch einen triftigen Grund gehabt. Ihre zweijährige Tochter habe nach einer Erkältung sehr schlecht gehört — über drei Wochen lang. „Ich musste mit ihr reden wie mit einer 90–Jährigen“, sagt sie.

Patienten warten lang auf ihre Termine

Noch länger hatte eine 62–jährige Lindauerin gewartet, die schon viele Jahre Patientin der HNO–Praxis ist. Sie hatte wegen einer Allergie einen Termin für eine Routineuntersuchung Ende Mai bereits im November ausgemacht — und stand dann ebenfalls vor der Tür mit dem Aushang. „Ich war immer zufrieden bei Dr. Erl“, sagt sie. Notgedrungen hat sie sich nun nach einem neuen Arzt umgesehen. Einen Termin hat sie erst Ende des Jahres bekommen.

Die Patientinnen und Patienten werden per Aushang informiert. (Foto: Barbara Baur)

Doch Erl sind die Hände gebunden. Er musste die Reißleine ziehen. Es sei unmöglich gewesen, alle Patienten anzurufen, um ihnen abzusagen, sagt er im Gespräch mit der Lindauer Zeitung. „Ich suche seit zweieinhalb Jahren Mitarbeiterinnen.“ Noch während er suchte, habe sich die Situation immer weiter verschärft, am Ende habe er nur noch eine Mitarbeiterin gehabt.

Schon mit einer medizinischen Fachkraft sei die Praxis unterbesetzt gewesen, gesteht er ein. Pro Tag kamen in Stoßzeiten 60 bis 80 Kassenpatienten. „Zwischen Lindau, Überlingen und Biberach haben wir jeden dringenden Fall genommen“, berichtet er. Die Wartezeit sei entsprechend lang gewesen. Da sei dann auch der Umgangston mancher Patienten gegenüber seiner Mitarbeiterin äußerst problematisch gewesen. Schließlich sei es zu viel geworden. „Es hat überhand genommen. Wir waren ausgebrannt.“

Vor sechs Wochen habe sie schließlich das Handtuch geschmissen. So konnte er den gewohnten Betrieb in der Praxis nicht mehr aufrecht erhalten. „Ich lasse den Versorgungsauftrag für die gesetzlich versicherten Patienten ruhen“, erläutert er. Jetzt mache er nur noch das, was er momentan bewältigen könne.

Umliegende Praxen müssen Patienten auffangen

Nun müssen die umliegenden Praxen die Patientinnen und Patienten auffangen. Ob bei ihm der Arbeitsaufwand gestiegen ist, will Mark Waltenheimer, ebenfalls HNO in Lindau, gegenüber der Lindauer Zeitung jedoch nicht kommentieren.

Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern (KVB), der der Versorgungsauftrag obliegt, sieht die Versorgung im Landkreis Lindau aber nicht gefährdet. Nach deren Schlüssel müssen Hals–Nasen–Ohren-Ärzte in solch einem Bereich rund 31.000 Patientinnen und Patienten versorgen. Der Versorgungsgrad liegt laut KVB aktuell bei 158 Prozent. „Er dürfte auch mit dem Wegfall eines Sitzes voraussichtlich über 100 Prozent liegen“, teilt Pressesprecher Axel Heise mit. Endgültige Klarheit werde aber erst die kommende Sitzung des Landesausschusses der Ärzte und Krankenkassen bringen, die zweimal jährlich tage.

Klaus Adams, Vorsitzender des Ärztlichen Kreisverbands Lindau, kritisiert diese Berechnungen. „Die Zahlen, die die KVB annimmt, sind veraltet“, sagt er. „Sie spiegeln nicht mehr die Realität und die Versorgungsintensität einer immer älter werdenden Bevölkerung, wie wir sie im Jahr 2023 haben, wider.“ Seiner Ansicht nach könne man längst nicht mehr von einer Überversorgung sprechen.

So schwierig ist die Suche nach Personal

Die Suche nach neuem Personal sei schwierig, schildert Erl, der die Praxis inzwischen mit einer geringfügig beschäftigten Kraft betreibt. Um das Team wieder zu vergrößern, habe er zwar schon einige Vorstellungsgespräche geführt, doch ein Arbeitsverhältnis sei bislang nicht zustande gekommen. „Der Urlaub im August ist für manche das Wichtigste“, sagt er.

Dass der Arbeitsmarkt angespannt ist, bestätigt Adams. „Es mangelt an medizinischen Fachangestellten“, sagt er. Die Konsequenz, die Erl gezogen habe, sei möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs. „Letztlich ist es eine Auswirkung der Gesundheitspolitik der letzten Jahre“, sagt Adams. Denn die Tarife der medizinischen Fachangestellten seien zwar immer wieder angepasst worden, doch was Kassen über die Kassenärztliche Vereinigung an Vergütungen für die Praxen zahlten, hielt dem bei Weitem nicht Schritt. Die Folge sei, dass viele Fachkräfte abwandern, etwa in die Industrie, selbst wenn Ärzte übertariflich zahlen.

Trotzdem hofft Erl, dass er Personal findet und die Kassenzulassung wieder aufnehmen kann — „in ferner Zukunft“, wie er wenig optimistisch sagt. Für die 32–jährige Lindauerin hat sich das Problem vorerst erledigt. Ihre Tochter hört inzwischen wieder gut. Doch bevor das Mädchen die nächste Erkältung bekommt, will sie es von einem Hals–Nasen–Ohren–Arzt abklären lassen. Deshalb ist sie auf der Suche nach einem neuen Termin — auch wenn sie vermutlich wieder wochenlang warten muss.