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Faktenwissen

Ein berührendes und aufwühlendes Stück Wahrheit

Lindau / Lesedauer: 4 min

Die Berliner Compagnie gastiert mit „Die Sehnsucht nach dem Frühling“ im Zeughaus
Veröffentlicht:23.09.2018, 17:18

Von:
  • Schwäbische.de
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Sprachlos für den Moment hat die Berliner Compagnie die Zuschauer nach 90 Minuten Spieldauer aus dem Theaterstück „Die Sehnsucht nach dem Frühling“ entlassen. „Wahnsinniges Faktenwissen“ und „tolles Ensemble“ lauteten dann die ersten spontanen Kommentare. Das Drama um eine syrische Familie beginnt im März 2011 und beleuchtet die Ursachen des Krieges. Hautnah und ungeschminkt. Minutenlangen Applaus gab es für diese 30. Theaterproduktion des Berliner Ensembles am Samstagabend im Zeughaus.

Der Bühnenraum bleibt schwarz. Einzig fünf Holzstühle dienen als Requisiten der ebenso vielen Akteure. Sie sehen sich einem gemischten Publikum im nahezu ausgebuchten Saal gegenüber. Auch einige syrische Zuschauer befinden sich darunter. Von Seiten dieser hätten sie während ihrer aktuellen Tournee bestätigt bekommen, dass die Inszenierung der Wahrheit entspreche, erzählt Schauspielerin Marion Alessandra Becker nach Spielschluss. Sie gibt die Rolle der Aischa, Ehefrau von Bassam, Oberst der Arabisch-Syrischen Armee. Ihn verkörpert H. G. Fries in einer Beharrlichkeit, die einem den Atem nimmt. Vor allem seiner aufrührerischen Tochter Suleika gegenüber.

Ana Hauck bringt das Spiel ins Rollen

Eine junge Journalistin, die sich auf die Seite der Demonstranten gestellt hat: Ana Haucks leuchtend rotes Haar steht symbolisch für ihre Gegenwehr, für ihren anfangs noch beherzten, dann aber immer erbitterter geführten Kampf gegen das Regime Baschar Al-Assads. Sie mimt zwischen all den Fronten der verschiedenen verfeindeten Ethnien diejenige, der es um ein friedliches Miteinander, um Versöhnung geht. Aber nicht um jeden Preis. Damit steht sie in dem Stück von Helma Fries auf scheinbar verlorenem Posten. In einem ständigen Hoch und Tief sieht sie sich ihrem Ziel nahe, bevor es wieder in unerreichbare Ferne rückt. Aus westlicher Sicht mag es sich um eine Lappalie gehandelt haben, als im März 2011 in der Provinzhauptstadt Daraa Schuljungen eine regierungsfeindliche Parole an die Wand ihrer Schule schrieben. Statt es als Sachbeschädigung abzutun, war dies der Beginn der „Syrischen Revolution“. Hierin ist Jean-Theo Jost zu Beginn der brutale Brigadegeneral Atef Najib, vor allem aber Suleikas Halbruder Dawud. Als christlicher Militärarzt weiß er früh um die mörderischen Machenschaften, denen verletzte Aufrührer ausgesetzt sind. Mit Wahlid und Alexander Matakas betritt Suleikas Verlobter die Bühne, der sich zunehmend radikalisiert, zur Al-Nusra-Front überläuft und dort getötet wird.

Wenn aus Freunden Feinde werden

Zentraler Kern dieser Inszenierung ist die Darstellung des Lebens einer syrischen Familie aus Christen, Sunniten und Alawiten. Wie sie noch ein Jahr zuvor in einem säkularen Land friedlich vereint war und sich nun in vollkommener Zerrissenheit befindet. Stets mit der Frage beschäftigt, was aus dem Land bloß werden soll. Das demonstrieren eindrücklich einzelne herausragende Szenen, in denen es zu offenen verbalen Angriffen kommt. Zwischen Bassam und Suleika, zwischen Wahlid und Dawud. Aischa nimmt dabei die beschwichtigende, aber auch verlogene Position ein in der Hoffnung auf eine friedvolle Lösung. Sprachlos macht Suleika, wenn sie den Vater mit einem Foto konfrontiert, auf dem er einen Demonstranten hingerichtet haben soll und Bassam abwiegelt und einknickt. Wenn Regimegegner Wahlid stöhnend von der Folter erzählt und Suleika fassungslos daneben steht. Hier wird der Irrsinn des nahenden Stellvertreterkrieges spürbar. Emotional wahrhaftig sind ebensolche Szenen, in denen die Familie auf halbwegs normalem Wege den Geburtstag Bassams feiern will. Wenn die Familienmitglieder ein Stück losgelöste Freude zeigen, nur um zu erfahren, dass sie Homs morgen in Richtung Damaskus verlassen müssen. Denn ab morgen ist dort Krieg.

Alle fünf Darsteller geraten umgekehrt zu „Kämpfern“ der freien syrischen Armee. Die Stühle stehen für ihre Entschlossenheit, doch auch die verpufft und macht aus ihnen gebrochene Figuren. Angesichts der Eingriffe westlicher Mächte aus den unterschiedlichsten Interessenslagen heraus. Um Syrien und seine Menschen geht es dabei am allerwenigsten. Die für Außenstehende oft unüberschaubaren politischen Verwicklungen aller mit allen bringt dieses Stück auf das Trapez. In Kooperation mit Pax Christi, den Friedensräumen und dem Kulturamt Lindau hat das Zeughaus mit diesem Gastspiel den Besuchern den Konflikt einmal auf andere eindringliche Weise sehr nahe gebracht.