Kinderbetreuung
Auch bei Wind und Wetter: Wie Kinder im Wald für das Leben lernen
Lindau / Lesedauer: 5 min

- Falk Böckheler
Egal ob Schnee, Regen oder Sonnenschein: Die Kinder des Waldkindergartens sind jeden Tag an der frischen Luft. Wie ein Tag im Wald aussieht.
Es ist kalt und durch die Bäume erreichen nur wenige Sonnenstrahlen den Boden, der vom Tau noch nass ist. Der Wald ist in die Farben des Herbsts getaucht. Zwischendrin wuseln Kinder in grellen Regenjacken und -hosen durch das Laub.
Bei der Räuberhöhle, der Bushaltestelle und dem Maltisch toben Kinder auf einer kleinen Lichtung. Tannenzapfen werden zu Spielzeug, Stöcke zu Rasenmähern und Laubhaufen zur Turnmatte. So verwandelt sich der Wald für die Kinder in ein Abenteuerland.
Die Anfänge in Deutschland
Was in Dänemark Mitte des vergangenen Jahrhunderts begann, kennt man aus Deutschland erst seit den 1990ern. Vor 25 Jahren gründeten Ina Kaiser und Carmen Beck-Grad einen der ersten Waldkindergarten in Bayern. Die Idee: Kindern Freiraum lassen.
Im Projektjahr 1998 zog die erste Versuchsgruppe in den Wald. „Die Resonanz war groß“, berichtet Eva-Maria Löhr, Leiterin seit 2012. Somit war der Versuch geglückt und der Waldkindergarten öffnete seine Tore. Anfangs freuten sich 18, heute mehr als 50 Kinder täglich auf den Wald.
Der Weg in den Wald
„Seid willkommen in unserem schönen Wald. Manchmal ist es warm und manchmal ist es kalt“, singen die Kinder im allmorgendlichen Begrüßungskreis. Und den Liedtext nimmt der Waldkindergarten wörtlich. Egal ob Schnee, Regen oder Sonnenschein ‐ die Gruppe spaziert auf ihre Lichtung.
Einen knappen Kilometer geht es immer tiefer in den noch kühlen Wald. „Wir nehmen immer andere Wege, aber mittlerweile kennen die Kinder jeden“, sagt Löhr und lacht. Die Route führt über einen Waldweg zu einem kleinen Trampelpfad bis zur Lichtung. Festes Schuhwerk und warme Klamotten schützen vor dem Matsch und der Kälte.
Die Waldfamilie
Der Kindergarten ist einer von mittlerweile 16 Waldkindergarten unter dem Mantel von „h&b learning“ in Bayern, die die Trägerschaft 2015 übernommen hat. Das sei für Löhr und ihr Team eine große Entlastung. „h&b learning“ kümmere sich um viel Bürokratisches und Organisatorisches. „Dadurch können wir uns auf unsere Arbeit konzentrieren“, sagt Löhr.
Auch die Eltern der Kinder seien eine große Stütze für den Kindergarten. „Das ist unsere Waldfamilie“, betont Löhr. Und in einer Familie passt man aufeinander auf.
Deswegen warten die Kinder bei den bekannten Sammelpunkten auf dem Weg geduldig auf alle. Nach dem erneuten Durchzählen schaut Auszubildende Cosima Seydel jedes Kind einzeln an. Ihr Blinzeln gibt den Kindern den Startschuss für die nächste Etappe. Einzeln rennen die Kinder tiefer in den Wald.
Regeln im Wald
An der Lichtung angelangt, setzen sich die Kinder in einen großen Sitzkreis. Dann beginnt das morgendliche Frühstück auf kleinen, im Kreis angeordneten Holzstämmen. Gegessen wird erst, wenn jeder bereit ist. Vorher warten die Kinder geduldig auf ihrem Platz.
Regeln sind wichtig. Auch im Wald ‐ oder gerade dort. „Wir sind nur zu Besuch“, lautet eine davon. Vor einiger Zeit hätten ein paar Kinder kleinere Buchen umgesägt. Für Leiterin Eva-Maria Löhr ein Anlass für eine Unterrichtsstunde. „Da habe ich den Kindern die Zusammenhänge zwischen dem Ökosystem und dem Menschen erklärt. Danach kam das nicht mehr vor.“
Der pädagogische Ansatz
Lernen durch Förderung und nicht durch Bestrafung: Das finden auch die Eltern der Kinder gut. „Hier werden die Stärken der Kinder gestärkt“, sagt Katinka Amacher, Mutter eines der Waldkinder. „Wir stehen voll hinter dem pädagogischen Ansatz.“
Die Vorbereitung auf die Schule spielt im Konzept des Waldkindergarten eine wichtige Rolle. „Wir machen das aber spielerisch“ sagt Löhr. Beispielsweise wird der Zahlenraum bis 30 durchs ständige Durchzählen geübt.
Aufwärmen beim Basteln
Auch wichtige motorische Fähigkeiten lernen die Kinder im Wald. Neben dem Maltisch, an dem man lernen kann, Stifte richtig zu halten, steht ein beheizter Wohnwagen. Im Innern können sich die Kinder aufwärmen, während sie basteln. Die Vorbereitungen auf den Tag der offenen Tür laufen auf Hochtouren.
Die Kinder schneiden und kleben Herzen auf Plakate. Die Fenster sind kunstvoll mit gebastelten Tieren des Waldes dekoriert. Die meisten Kinder wollen aber vom warmen Wohnwagen nichts wissen. Ohne Unterlass toben sie durch den Wald. Die kleine Marlene antwortet auf die Frage, ob ihr kalt wäre nur: „Nö!“ und rennt wieder los.
Kreatives Spiel
Ausgestattet mit Seilen, Schüsseln und einem Säckchen gefüllt mit ein paar Werkzeugen machen sie sich täglich an die „Arbeit“. Es gibt viel zu tun. Die Löcher müssen tiefer, das Dach der Räuberhöhle verstärkt oder der „Fotograf der Zeitung“ ins „Gefängnis“ gebracht werden. Die Beschäftigungen sind vielseitig.
Auszubildende Philomena Pahl sieht das als wichtigen Ausgleich. „Die Kinder sind hier nicht mit Spielzeug überladen.“ Das schaffe Raum für Kreativität. Cosima Seydel erzählt, sie habe vorher in einem Regelkindergarten die Kinder deutlich mehr beschäftigen müssen. Im Waldkindergarten seien die Kinder „kreativer in der Selbstbeschäftigung“, meint sie.
Die Natur schweißt zusammen
Die sozialen Kompetenzen, die die Kinder hier lernen würden, seien aber viel wichtiger. So würden „Anker für ganze Klassengemeinschaften entstehen“, sagt Eva-Maria Löhr. Ausnahmesituationen wie Kälte, Regen oder Hagel würden andere Kinder nur durch das Fenster kennen.
Durch die tägliche Zeit im Wald werde der Zusammenhalt zwischen den Kindern und auch den Erziehern gestärkt, meint Löhr.
Für die Sicherheit auf der Lichtung sorge die Bayrischen Staatsforsten, der die Fläche zur Verfügung stellt. Ob morsche Bäume oder gefährlich Äste: Der Baumpfleger sei nur einen Anruf entfernt berichtet Löhr.
Ausweichmöglichkeit ins Innere
Sollte durch Wind oder andere Wetterlagen das Spielen im Wald zu gefährlich sein, gäbe es immer die Möglichkeit, nach Drinnen zu ziehen. Mit dem „Haug am Brückele“ hat der Waldkindergarten eine perfekte Umgebung ganz in der Nähe gefunden.
Der Tag im Wald war zwar kühl, aber schön. Auf dem Rückweg ist es um die journalistische Distanz geschehen. Mit einem Kind links und einem rechts an der Hand geht es für den „Fotografen von der Zeitung“ wieder zurück zum Parkplatz, wo die Eltern auf die Kinder warten.
Der Waldkindergarten Lindau lädt am 25. Geburtstag zum Tag der offenen Tür ein: 25. November 2023 von 11 bis 16 Uhr. Mit Adventsmarkt, Kranzbinden, Kaffee und Kuchen, Kinderaktionen und Führung durch den Wald.