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Tettnang

Londoner Musiker übersetzen Angstschreie in Musik

Tettnang / Lesedauer: 2 min

Das Castalian Quartet bringt Schrecken und Tod von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer in den Rittersaal. Eine wahrhaft schrillende Anklage.
Veröffentlicht:06.02.2023, 14:00

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Das 2011 gegründete Londoner Castalian Quartet wird gerühmt wegen seiner makellosen Technik und Stilsicherheit wie auch wegen seiner menschlichen Wärme und Ausstrahlung. Eigenschaften, mit denen es auch beim Konzert am Donnerstagabend im Tettnanger Rittersaal beeindruckt hat.

Dennoch kein Konzert zum Zurücklehnen und Genießen, denn die finnische erste Geigerin Sini Simonen, der walisische Geiger Daniel Roberts, die irische Bratschistin Ruth Gibson und der walisische Cellist Steffan Morris haben ein aufwühlendes Programm mitgebracht.

Reaktion auf Kindersterben im Mittelmeer

Im April letzten Jahres hat das Castalian Quartet bei seinem Debüt in der Elbphilharmonie das erste Streichquartett der Britin Charlotte Bray uraufgeführt, mit dem die Komponistin auf eine Installation der Künstlerin Caroline Burraway reagiert.

„Ungrievable Lives“ (auf deutsch: unbeweinbare Leben) zeigt dreizehn Kinderkleider, genäht aus abgelegten schmutzigen, zerrissenen Westen gestrandeter Flüchtlinge, meterhoch gestapelt auf der Insel Lesbos. Jedem der dreizehn Kleider gilt ein hochemotionaler, schmerzhafter Streichersatz, mit dem die Musiker ein grausames Kopfkino evozieren.

Entsetzen, Delirum, Lähmung, Aufschrei

Die Bilder lassen eintauchen in das Entsetzen, in Momente schwindenden Bewusstseins, Momente des Deliriums. Auf kleine Lichtstrahlen folgen überreizte, zerreißende Nerven, Lähmung, Aufschreie, bebendes Gefangensein in Angst. Am Ende stehen letzte Aufschreie, ein letztes Aufbäumen, eine schrille Anklage.

Nicht minder schicksalsschwer war das nachfolgende Streichquartett Nr. 13 B-Dur op. 130 von Beethoven, dessen ursprüngliche Große Fuge, für die sich das Castalian Quartet entschied, sein letztes Werk wurde.

Schicksalsschwere Süße

Eindrucksvoll ließen die Musiker die harmonischen Kühnheiten und klanglichen Extreme erleben, die vorandrängenden, ineinanderfließenden Emotionen, das kunstvolle Andante wie auch die lyrische Zartheit der Cavatina.

Wo in den „Ungrievable Lives“ das blanke Entsetzen herrschte, stand bei Beethoven neben Chaos und Schmerz auch sprühende Vitalität, bittersüße Milde und stille Gelöstheit.

Instrumente kratzen bis zum abrupten Ende

Schon der Auftakt mit dem 1945 komponierten Streichquartett Nr. 2 C-Dur op. 36 von Benjamin Britten tauchte die Zuhörer in ein Wechselbad der Gefühle. Gesteigerte Dynamik und Beruhigung prägten das Allegro, aggressives Vorwärtsstürmen und in die Höhe Drängen das Vivace: Wie ein Insektenschwarm schwirrten und kratzten die Instrumente bis zum abrupten Ende.

Am Ende wird es dann noch versöhnlich barock

Mit einem Thema und 21 Variationen huldigte Britten in der abschließenden „Chacony“ seinem barocken Vorbild Henry Purcell. In immer neuen Solokadenzen variierten die einzelnen Streicher das Thema, jeder spielte in sich versunken, hingegeben an die Musik.

Ein spannendes Spiel von Entstehen, Vergehen und Verglühen, ehe wieder vitales Miteinander entstand. Ein eindrucksvolles Konzert.