Die Nacht von Sonntag auf Montag haben Julius May (21) und Daniel Erdmann (24) im Vorraum einer Bankfiliale in Überlingen geschlafen. Bei den Geldautomaten. Das kommt vor, wenn man auf Wanderschaft ist. „Zum draußen schlafen war es zu kalt“, sagt Daniel Erdmann. Er ist der Erfahrene der beiden Tischlergesellen: Seit vielen Monaten ist er auf Wanderschaft. Am 18. Mai wären die vorgeschriebenen drei Jahre und ein Tag eigentlich um. Aber er hat Pläne und will noch ein bisschen weiterwandern. Vielleicht sogar nach Schweden.
Zusammen mit Julis May hat er sich gestern das Markdorfer Stadtsiegel in sein Reisebuch stempeln lassen. Bei den vielen Stationen ist das vor allem ein Stück Erinnerung daran, wo man überall war. Vor Jahrhunderten hatte dieser Brauch noch eine andere Bedeutung: Damit haben sich die Gesellen das Recht erworben, sich in einer Stadt aufzuhalten.
Julius May hat nicht so gut geschlafen. Der 21-jährige Lörracher ist erst seit Samstag auf Wanderschaft. Alles ist neu, ungewohnt, und er sagt selbst: „Wenn ich nicht so viel Vorbereitung darauf verwendet hätte, wer weiß, ob ich dann tatsächlich gegangen wäre.“
Im sogenannten „Charlottenburger“ – das sind die Leinensäcke, in denen die Wanderburschen ihr Hab und Gut mit sich nehmen – hat er das verstaut, was er braucht: Arbeitskluft, ein bisschen Werkzeug, Wechselwäsche, Schlafsack, Rasierzeug und Zahnbürste. Und ein Barguthaben von fünf Euro. Nicht viel. „Es hat schon Tage gegeben, da habe ich nur einen Apfel gegessen“, sagt Daniel Erdmann. Wenn die beiden Geld brauchen, dann müssen sie arbeiten. Auch das ist Glückssache: „Manchmal hat man Glück, und der erste Betrieb kann einen brauchen. Manchmal fragt man 20, 30 mal – ohne Erfolg.“
Gestern sind die beiden Burschen von Markdorf nach Ravensburg weitergezogen. Dort in der Gegend wollten sie nach Arbeit schauen, ehe sie am Ende der Woche nach Berlin fahren. Daniel Erdmann hat sich dort mit einem Freund verabredet. Julius May muss wohl oder übel mit. Der 24-Jährige Erdmann lernt ihn sozusagen ein. „Ich schau ihn mir an, wie er sich macht. Dann wird er irgendwann einmal in den Rolandschacht aufgenommen, die reisende Gesellenvereinigung.“ Insgesamt gibt es sechs solcher Schächte.
Wichtigstes Kriterium dafür: Man sollte sich als Wanderbursche immer so verhalten, dass man jederzeit wieder gerne gesehen ist.
Erdmann war schon kreuz und quer in Deutschland unterwegs, in Dänemark, Irland, Österreich und der Schweiz. Mal war er alleine, dann wieder mit einem anderen Wandergesellen. Oft hat er im Freien übernachtet, manches Mal auch bei Privatleuten, in Werkstätten oder im Kolpingswerk. „Eine heiße Dusche und ein warmes Bett lernt man in dieser Zeit schon sehr schätzen“, sagt er. Auch wenn er außer seinem Bündel nichts besitzt: Er ist sicher, dass er glücklicher ist als mancher, der viel Geld auf dem Konto hat und Porsche fährt. Denn die Erfahrungen und Begegnungen, die er in dieser Zeit gemacht hat, werden ihn sein Leben lang begleiten. Und: „Wenn wir auch sonst nichts haben: Zeit haben wir.“