Bayern
Diesel-Fahrverbot in München: Mittlere Katastrophe am Mittleren Ring
München / Lesedauer: 9 min

Ulrich Mendelin
Pastor Siegfried Winkler kann sich über mangelndes Interesse an seinen Gottesdiensten nicht beklagen. Etwa 100 Menschen kommen Sonntag für Sonntag in die Räume der Evangelischen Gemeinschaft München-Bogenhausen. Bislang jedenfalls. Demnächst könnte sich das ändern, fürchtet der Theologe.
Etwa die Hälfte der Gläubigen kommt mit dem Auto zum Gottesdienst. Und von ihnen wissen viele gar nicht genau, ob sie das am nächsten Sonntag noch dürfen – denn die Gemeinde liegt innerhalb des Mittleren Rings, und damit in der Umweltzone, für die ab 1. Februar Fahrverbote für viele Dieselautos gelten.
„Wir haben einen größeren Einzugsbereich als eine klassische Kirchengemeinde“, sagt Winkler über seine Gemeinschaft. „Darunter sind auch Ältere, die Mühe hätten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu uns zu kommen, und Familien, für die das sehr umständlich wäre.“ Der Pastor sieht in den neuen Regeln für seine Gottesdienstbesucher auch eine spirituelle Beeinträchtigung.
Das ist problematisch, es schränkt die Entscheidung ein, seine Gemeinde frei zu wählen.
Drei-Stufen-Plan für München
Wer einen Diesel der Abgasnorm Euro 4 fährt und damit weiterhin auf dem oder innerhalb des Mittleren Rings unterwegs sein will, muss eine Ausnahmegenehmigung beantragen. Das ist in der ersten Stufe des Luftreinhalteplans für München festgelegt, die an diesem Mittwoch in Kraft tritt. Konkret geht es darum, an den Messstationen den vorgeschriebenen Grenzwert für Stickstoffdioxid von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft einzuhalten.
Wird das mit den ersten Einschränkungen nicht erreicht, dürfen ab Oktober in einer zweiten Stufe auch die Dieselautos mit der Abgasnorm 5 nicht mehr so ohne weiteres in die Stadt, in einer dritten fallen dann ab April 2024 die meisten Ausnahmeregelungen weg.
„Viele Leute realisieren jetzt erst, dass das massive Einschränkungen sein können“, hat Pastor Winkler bei seinen Gemeindemitgliedern beobachtet. „Sie müssen erst einmal schauen, unter welche Ausnahmegenehmigung sie überhaupt fallen.“
Jede Menge Ausnahmen
Von denen gibt es zunächst recht viele. Sie gelten grundsätzlich für Anwohner, Lieferanten, Handwerker, Behinderte, Pflegedienstmitarbeiter, Bestatter, Taxifahrer. Dazu auf Antrag für den Transport von Veranstaltungslogistik, für private Härtefälle und Schichtarbeiter, für letztere aber nur, wenn der Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel nicht zumutbar ist. Auch die Zufahrt zu den Autoreisezügen am Ostbahnhof und zu einem in der Umweltzone gelegenen Campingplatz bleibt frei, das gesamte Ausnahmekonzept umfasst sieben DIN-A-4-Seiten.
Hier informiert die Stadt München rund um das Thema Dieselfahrverbote
Genehmigungen müssen beim Kreisverwaltungsreferat München beantragt werden. Organisatorisch droht eine mittlere Katastrophe, städtische Angestellte dürften wochen- oder monatelang mit nichts anderem beschäftigt sein. Weil die Behörde offenbar selbst damit rechnet, dem Ansturm nicht Herr zu werden, dürfen Euro-4-Fahrer bis Ende April auch ohne Erlaubnis in die Stadt fahren. Es reicht der Nachweis, eine Genehmigung beantragt zu haben.
Fernverkehr auf dem Mittleren Ring
Betroffen sind auch Reisende, die etwa aus dem Allgäu und Oberschwaben in Richtung Rosenheim, Salzburg oder ins Tiroler Unterland unterwegs sind: Der Münchner Autobahnring weist im Südwesten eine Lücke auf, der Verkehr wird daher am Ende der A 96 für einige Kilometer über den Mittleren Ring geleitet, bevor es wieder auf die Autobahn geht. Viele Dieselfahrer müssen sich künftig eine Alternative überlegen.
Katrin Habenschaden, BürgermeisterinMünchen ist bei der Luftreinhaltung das Sorgenkind Deutschlands.
Fahrverbote kennen andere Städte in Deutschland schon lange, in Stuttgart beispielsweise gelten für Euro-4- und Euro-5-Diesel aktuell zwei unterschiedlich große Verbotszonen. Nirgendwo aber haben sich die Verantwortlichen so zäh gegen Fahrverbote gewehrt wie in München.
Dabei findet sich die Stadt bei den Stickoxiden in der ungewohnten Rolle des bundesdeutschen Schlusslichts wieder, die Luftqualität unter dem weiß-blauen Himmel der bayerischen Landeshauptstadt reißt seit Jahren die Grenzwerte und tut dies trotz unstrittiger Verbesserungen noch immer.
Deutschlands Sorgenkind bei sauberer Luft
„München ist bei der Luftreinhaltung das Sorgenkind Deutschlands. Nirgends sonst im Land werden so hohe Abgaswerte registriert wie bei uns“, sagte Bürgermeisterin Katrin Habenschaden im Oktober vergangenen Jahres. Da hatte die Grünen-Politikerin gerade einen Vergleich mit der Deutschen Umwelthilfe (DUH) und dem ökologisch orientierten Verkehrsclub Deutschland geschlossen. Wichtigster Punkt war der Stufenplan für Fahrverbote, dessen erste Stufe nun in Kraft tritt.
Damit endet vorerst ein jahrelanger Rechtsstreit, bei dem die zunächst zuständige CSU-geführte Landesregierung auch Niederlagen vor Gericht nicht akzeptieren wollte. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte vom Land eine Verschärfung der Luftreinhaltepläne gefordert und ordnete, als dies nicht geschah, Zwangsgelder an. Der Freistaat zahlte die Zwangsgelder, war aber qua Gesetz gleichzeitig deren Empfänger und kassierte sie sofort wieder ein, daher beeindruckte das die Regierenden wenig.
Zwangshaft für Söder?
Schließlich sah sich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sogar genötigt, beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg nachzufragen, ob nach EU-Recht Zwangshaft gegen den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) und andere Amtsträger angeordnet werden kann oder gar muss, um den deutschen Urteilen Geltung zu verschaffen.
Die EU-Richter betrachteten dies aber als Sache der Einzelstaaten, woraufhin die Münchner Verwaltungsrichter den Gedanken verwarfen. Schließlich erledigte sich die Sache, weil der Freistaat die Verantwortung für die Luftreinhaltung Mitte 2021 an die bayerischen Kommunen abgab – und damit im Falle Münchens an SPD und Grüne, die im Rathaus dominieren.
Zuständig für die Verhandlungen mit den Klägern war jetzt die Grünen-Politikerin Habenschaden, was die Tonlage deutlich veränderte. „Endlich tut die Stadt München alles, was notwendig ist, um zwölf Jahre rechtswidrige Zustände zu beenden“, lobt der streitbare DUH-Chef Jürgen Resch, der seinerseits für viele Unionspolitiker, nicht nur in Bayern, Persona non grata ist.
„Der 1. Februar ist ein großer Schritt für die saubere Luft in München, dem weitere Schritte folgen werden“, sagt Resch. „Die Prognosen zeigen eindeutig, dass alle folgenden Schritte zur Verschärfung des Dieselfahrverbots zwingend notwendig sind, um den Grenzwert schnellstmöglich einzuhalten.“ Allerdings weist der DUH-Chef darauf hin, dass umfangreiche Ausnahmeregelungen die Wirkung der Umweltzone mindern würden.
Probleme beim Beliefern von Läden
Das Konvolut an Ausnahmen erachtete die Stadtspitze aber wohl als nötig, um die Gemüter zu beruhigen. Beispielsweise bei den Handwerkern, von denen viele mit Dieselautos in die Innenstadt fahren müssen. Sie äußern sich nach diversen Zugeständnissen eher zahm. „Wir akzeptieren, dass die Problematik der Luftreinhaltung in der Landeshauptstadt Lösungen erfordert“, sagt Franz Xaver Peteranderl, Präsident der Münchner Handwerkskammer.
Der Kammerchef begrüßt die Ausnahmen, kritisiert aber die Regelungen für die Zeit ab April 2024. Mit der dritten Stufe des Luftreinhalteplans soll es Ausnahmen nur noch für Handwerker mit einem eigenen Parkausweis geben, den viele Betriebe aber nicht bekommen: Wer in der Stadt ein Ladengeschäft und außerhalb eine Werkstatt betreibt, fürchtet Peteranderl, kann dann die Verkaufsstellen nicht mehr beliefern. Betroffen sein könnten Bäcker, Metzger, Konditoren, aber auch Optiker oder Orthopädietechniker.
Schadstoffe in Stuttgart unter dem Grenzwert
Ob dies am Ende wirklich so kommt, ist offen – vielleicht werden auch vorher die Grenzwerte eingehalten. In Stuttgart, lange Zeit ebenfalls eine Problemzone bei der Luftqualität und Schauplatz heftiger Debatten darüber, hat sich die Lage inzwischen entspannt. Vor wenigen Jahren rief die Stadt noch bei Feinstaubalarm zum Verzicht auf Autos und Kamine, seit 2018 wird der Grenzwert für Feinstaub und seit 2021 auch für Stickoxid eingehalten.
DUH-Chef Jürgen ReschDieselfahrverbote wirken!
Die FDP fordert deswegen, die Umweltzone in Stuttgart aufzuheben. „Für mich sieht es danach aus, als wäre es Teil der grünen Folklore, den Luftreinhalteplan des Regierungspräsidiums Stuttgart für die Landeshauptstadt mit einer Aufrechterhaltung der Fahrverbote fortzuschreiben“, kritisiert der FDP-Landtagsabgeordnete Friedrich Haag.
Umwelthilfe-Chef sieht sich bestätigt
Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hält die Diesel-Beschränkungen in Stuttgart dagegen nach wie vor für nötig, weil der Stichstoff-Grenzwert nur leicht unterschritten wird. Auch Jürgen Resch, der mit seinen Klagen die Fahrverbote in München, Stuttgart und anderswo vorangetrieben hat, sieht sich bestätigt. „Dieselfahrverbote wirken!“, frohlockt der Umwelthilfe-Chef. „Das Dieselfahrverbot jetzt aufzuheben, würde zu einer schlagartigen Verschlechterung der Luftqualität in Stuttgart führen und damit wieder zu Grenzwertüberschreitungen.“
Resch ist indes gar nicht glücklich darüber, dass genau dies in anderen baden-württembergischen Städten geschieht – im Laufe des Jahres sollen in Schramberg, Heidelberg, Karlsruhe, Pfinztal, Ilsfeld, Schwäbisch Gmünd, Urbach und Wendlingen die entsprechenden Verkehrsschilder abgeschraubt werden. Nach Angaben des Stuttgarter Verkehrsministeriums ist das dann rechtlich erforderlich, wenn die Schadstoffkonzentration dauerhaft und deutlich unter dem Grenzwert liegt.
CSU-Abgeordneter reicht Klage ein
In München würde Robert Brannekämper am liebsten erreichen, dass die gerade erst montierten Schilder so schnell wie möglich wieder abgenommen werden. Der CSU-Landtagsabgeordnete reicht gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Automobilklubs Mobil in Deutschland, Michael Haberland, der ebenfalls CSU-Mitglied ist, Klage beim Münchner Verwaltungsgericht ein. „Dieselfahrverbote sind ideologischer Irrsinn, der gegen Autofahrer gerichtet ist“, schimpft Brannekämper. „Den wollen die Grünen ausleben, und die SPD dackelt hinterher.“
Da derlei Argumente juristisch nicht relevant sind, argumentiert er vor Gericht anders. Erstens würden die Grenzwerte inzwischen an allen Messstellen bis auf einer einzigen am Mittleren Ring eingehalten. Zweitens würden sich die Messwerte absehbar auch weiter verbessern. Und drittens sind die Dieselautos nach Ansicht von Brannekämper ohnehin nicht für die Stickoxidwerte verantwortlich. „Im Lockdown ging der Verkehr teils um die Hälfte zurück, die Stickoxid-Werte aber nur um zehn bis 15 Prozent“, sagt er zur Begründung.
EU erwägt schärfere Grenzwerte
Vielleicht ist die Münchner Umweltzone also bald wieder Geschichte – vielleicht auch nicht. Denn die Europäische Union überarbeitet gerade ihre Luftqualitätsrichtlinie. Das könnte neue, schärfere Grenzwerte nach sich ziehen. Die mögliche Folge: In München, Stuttgart und vielen anderen Städten liegen die Messwerte plötzlich wieder weit über der erlaubten Belastungsgrenze – und die Luftreinhaltepläne müssen weiter verschärft werden.