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Wie in Baden–Baden Russen und Ukrainer zusammenleben

Baden-Baden / Lesedauer: 8 min

Baden–Baden und Russland verbindet eine lange Historie. Nun gilt der Kurort plötzlich den Ukrainern als Fluchtpunkt und Sehnsuchtsstätte. Über eine Stadt, die sich neu erfinden muss.
Veröffentlicht:23.03.2023, 17:00

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Eigentlich könnte es so sein wie immer, wenn Baden–Baden aus seinem Winterschlaf erwacht. Im Kurpark gehen die ersten Kirschblüten auf und in der Eismanufaktur vis-à-vis dem Casino lockt die Auslage mit Sorten wie Wiener Mandel, Mocca und Schwarzwälder Kirsch. Schon bald werden die Touristen über die Kieswege flanieren und auf der Lichtentaler Allee entlang der Oos spazieren, mit Blick auf die Hänge, wo die Dächer der Gründerzeitvillen hervorragen. Eigentlich, denn in der „Sommerstadt Europas“ ist nichts mehr wie es einmal war. „Es ist vorbei“, beklagt Valentina Juschina, stellvertretende Vorsitzende der Deutsch–Russischen–Kulturgesellschaft Baden–Baden. „Die Russen werden nicht mehr kommen.“

Ihr Ausbleiben bedeutet für Baden–Baden eine Zeitenwende, ist die Stadt doch seit mehr als 200 Jahren ein Sehnsuchtsziel der Moskowiter und Petersburger. Der Abgesang begann schon 2014, mit der russsichen Besetzung der Krim und den ersten Sanktionen gegen Russland. Der Angriffskrieg auf die Ukraine führte nun zum kompletten Einbruch, zum Leidwesen von Restaurants, Hotels und den zahlreichen Luxusboutiquen in der schicken Fußgängerzone. Stattdessen kommen jetzt so viele ukrainische Flüchtlinge nach Baden–Baden wie in keine andere Stadt im Südwesten. Und bilden mit den bereits ansässigen Russen eine sehr spezielle Melange, fernab von Schlachtfeldern und Kriegsgetöse.

Reiche Russen kamen mach Baden–Baden, um zu sparen

Juschina zog es schon vor 30 Jahren ins Badische. Durch Glasnost und Perestroika war der Eiserne Vorhang gefallen, die Firmen suchten ihr Glück im Westen, und Baden–Baden zählte in Russland gleich nach Berlin zu den bekanntesten Orten in Deutschland. „Die Stadt blühte auf, alle waren auf die Russen fixiert.“ Juweliere eröffneten Filialen und Makler machten märchenhafte Geschäfte. Zahnkliniken, Internisten und plastische Chirurgen siedelten sich an, die den betuchten Gästen eine Rundumversorgung offerierten. „Die reichen Russen sagten, ,wir kommen nach Baden–Baden, um zu sparen’. Denn in Moskau ist alles viel teurer.“

Juschina hatte in Moskau Germanistik studiert und sollte für einen russischen Unternehmer bei Verhandlungen übersetzen. „Eigentlich wollte ich nur einen Monat in Baden–Baden bleiben.“ Doch dann verliebte sie sich, erst in einen Mann, und dann in die Stadt. Der guten Luft wegen („In Moskau stinkt es nach Öl und Benzin“) und der Thermalbäder, der mondänen Ausstrahlung und der reichhaltigen Kultur mit Konzerten und Museen. „Es ist wunderschön hier, angenehm und gemütlich.“ Die Gemütlichkeit allerdings hat zuletzt gelitten.

Am Flughafen wurden Jets beschlagnahmt

Die meisten wohlhabenden Russen sollen ihre Immobilien bereits verkauft haben, am Flughafen Karlsruhe/Baden–Baden wurden wegen der Sanktionen mehrere Jets beschlagnahmt, und der russische Dirigent Valery Gergiev musste das örtliche Festspielhaus verlassen. „Angesichts des Krieges in Europa, können und wollen wir uns nicht neutral verhalten“, erklärte die Stadtverwaltung. „Wir stehen zu den Werten von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.“ Daher ruhen auch die Städtepartnerschaften mit Jalta und Sotschi. Für den Kurort eine Zäsur und auch eine Zerreißprobe, gehören die Russen doch zu seiner DNA, und noch immer leben rund 2000 hier — auf die inzwischen aber ungefähr genauso viele Ukrainer kommen.

Baden–Baden, mit seinen 55.000 Einwohnern, hat damit im Verhältnis den größten Zuzug an Flüchtlingen aller Stadt– und Landkreise in Baden–Württemberg. „Für uns ist das eine extrem große Herausforderung“, sagt Bürgermeister Roland Kaiser (Grüne). Zumal die Zugangszahlen unverändert hoch bleiben, verbunden mit enormen logistischen Aufgaben. Von Konflikten zwischen den Volksgruppen will er aber nichts wissen. „Das Schwarz–Weiß-Denken zerbröselt vor Ort, es wird von allen Seiten geholfen.“ Auch Matthias Voigt, bei der Stadt zuständig für Flüchtlingsfragen, hält das Zusammenleben auf der recht engen Gemarkung für „völlig problemlos“. Spannungen, „ja, die gab es sicher auch schon“, aber nur sporadisch, versichert er.

„Menschen, die hier schon lange leben, tragen keine Schuld“

Wie harmonisch sich das Verhältnis unter der Oberfläche tatsächlich darstellt, lässt sich nur schwer beurteilen, im Supermarkt funktioniert es auf alle Fälle. Denn während in den teuren Lagen Nobel–Geschäfte wie Escada dicht machen, hat etwas abseits vom Stadtkern ein MixMarkt eröffnet, die Kette bietet osteuropäische Lebensmittel an. Darunter Borschtsch und Nuss–Sahnetorte aus der Ukraine, Pralinen und Bier aus Russland, Wodka aus Kasachstan, der Störkaviar stammt aus deutscher Aquakultur. Ähnlich vielfältig verhält es sich mit der Belegschaft, der Bezirksleiter ist Russe, ebenso der Mann hinter der Fisch– und Fleischtheke. Filialleiterin Anna Babkova kam dagegen schon vor fünf Jahren mit der Familie aus der Ukraine. „Es gibt keine Probleme unter uns“, beteuert die 25–Jährige, „über Politik reden wir erst gar nicht.“

Anzhelika Shelest, die im MixMarkt Warenregale auffüllt, unterscheidet ebenfalls zwischen den Kriegsparteien und den Leuten vor Ort. „Ich habe noch immer Vertrauen in gute Menschen. Aber nicht in die, die unser Volk umbringen“, sagt die 28–Jährige, die mit Mann und Tochter aus Kiew geflüchtet ist. „Die Menschen, die hier schon lange leben, tragen keine Schuld.“

Wo Dostojewski sein Geld verzockte

Im Zweifel mag auch ein gemeinsames Gebet helfen, in Sichtweite des Supermarktes liegt die russisch–orthodoxe Kirche mit ihrem vergoldeten Zwiebelturm. Der abgedunkelte und reich verzierte Altarraum beeindruckt mit seinen Fresken, in der Krypta liegt der Sarkophag von Maria Maximilianowna, einer Enkelin des Zaren Nikolaus I. Besucher werden von einem russischen Mütterchen mit Kopftuch empfangen, wortkarg und mürrisch verkauft die Frau in einem Holzverschlag religiöse Anhänger und Ketten. An diesem mystisch anmutenden Ort fällt es leicht, sich in einen Roman von Tolstoi oder Dostojewski zu denken, beide Literaten weilten auch in Baden–Baden. Dostojewski, um im Casino sein Geld zu verzocken, Motive dieser traumatischen Tage verwendete er in seinem Werk „Der Spieler“. Davon abgesehen, mochte er die Stadt nicht, wie aus Schriften hervorgeht, die reichen Bürger und ihre vermeintliche Hochnäsigkeit waren ihm zuwider. Anders als bei Turgenew, dessen Roman „Rauch“ über die Kurgäste in Baden–Baden zur Sowjetzeit ein Klassiker war.

Die Liebe der Russen zu der Stadt geht aber noch weiter zurück, 1793 verheiratete Zarin Katharina II. ihren Enkel Alexander I. mit der 14–jährigen Prinzessin Luise von Baden, später Zarin von Russland. Als sie 1814 nach Baden–Baden zurückkehrte, schwärmte sie: „Ich bin hier an einem der schönsten Orte der Welt.“

Friedensverhandlungen zwischen MixMarkt und Kurhaus?

Dank Friedrich dem Großen seien wiederholt deutsche Prinzessinnen mit Mitgliedern des Zaren–Hofes vermählt worden, erklärt Valentina Juschina. „Sie alle wurden im Geiste der russischen Kultur erzogen“, sagt die 78–jährige Übersetzerin. Zeugnisse, die an diese Blütezeit erinnern, gibt es noch viele in der Stadt, wie eine Kupfer–Statue von Dostojewski, die Turgenew–Gesellschaft oder das beliebte Fabergé-Museum. Das Zepter der Deutungshoheit über die aktuellen Geschehnisse versuchen allerdings auch in Baden–Baden die politischen Strömungen zu übernehmen.

So kam es am Jahrestag des Angriffskrieges auf die Ukraine an der Reinhard–Fieser–Brücke zu einer Anti–Putin–Kundgebung, mit der Botschaft: „Ohne Kampf wird es keine Ukraine mehr geben.“ Nur wenige Tage später versammelten sich an selber Stelle die Menschen zu einer Friedensdemonstration, auf der der Journalist Franz Alt erklärte: „Herr Putin, beenden Sie diesen Massenmord in der Ukraine so schnell wie möglich.“ Und weiter: „Die Friedensstadt Baden–Baden bietet sich Ihnen als Verhandlungsort an“, so Alt in seiner Rede. „Ich kann mir auch vorstellen, dass ein Papst nach Baden–Baden kommt und Friedensverhandlungen führt. Oder ein Dalai Lama oder der UNO–Generalsekretär. Baden–Baden wäre genau der Boden für solche Friedensverhandlungen.“ Der Papst und Putin, irgendwo zwischen MixMarkt und Kurhaus, Oberbürgermeister Dietmar Späth (parteilos) begrüßt zwar die Idee, die kleine Weltstadt am Schwarzwald wäre aber womöglich etwas überfordert.

„Wir müssen zeigen, dass Deutsche und Russen zueinander gehören, sich gegenseitig beeinflussen und bereichern“

Anderseits, in turbulenten Zeiten lässt sich wenig ausschließen, auch angesichts Russlands wechselnder Protagonisten in Baden–Baden. Angefangen vom Hochadel über’s Bürgertum bis hin zu den Künstlern, von den Oligarchen über Geschäftemacher bis zu den Neureichen. Sie alle liebten dieses verschlafene Städtchen, das mit seinen klassizistischen Säulen–Bauten und dem elitären Auftritt auf merkwürdige Weise gleichermaßen zeitlos wie aus der Zeit gefallen wirkt.

Valentina Juschina will die Vergangenheit hinüber retten in die Gegenwart. „Ich nehme mir das alles zu Herzen und es macht mich traurig“, sagt sie. „Es darf nicht passieren, dass der letzte Faden abreißt und das Interesse an der russischen Kultur erlischt.“ Um dem entgegen zu wirken, organisiert sie Konzerte, Lesungen und Vorträge. „Wir müssen zeigen, dass Deutsche und Russen zueinander gehören, sich gegenseitig beeinflussen und bereichern.“ Und, wer weiß, vielleicht kehren die Russen eines Tages ja nach Baden–Baden zurück. Dann werden sie gewiss genauso willkommen sein, wie heute ihre Nachbarn aus der Ukraine.