StartseiteRegionalBaden-Württemberg8000 Frauen in Baden-Württemberg von Genitalverstümmelung betroffen.

Verbotene Tradition

8000 Frauen in Baden-Württemberg von Genitalverstümmelung betroffen.

Göppingen / Lesedauer: 5 min

Die Opfer von Genitalverstümmelung leiden oft ein Leben lang unter Schmerzen. Das Land hat jetzt eine zentrale Anlaufstelle für sie eingerichtet.
Veröffentlicht:02.03.2023, 18:00

Von:
  • Svenja Helfers
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Der Verein Sompon Socialservices hat am Donnerstag eine zentrale Anlaufstelle für Mädchen und Frauen eröffnet, die von FGM/C betroffen sind. FGM/C ist eine englische Abkürzung und bedeutet wörtlich Female Genital Mutilation/ Cutting — übersetzt heißt das weibliche Genitalverstümmelung und -beschneidung. In diesem Zusammenhang ist auch oft nur von FGM die Rede.

Wenn man die Mädchen fragt, wollen sie das gar nicht. Sie werden gezwungen oder zumindest sehr gedrängt.

Vera Sompon

Koordiniert wird die Beratungsstelle von Sompon Socialservices. Der Verein arbeitet für das Projekt mit weiteren Beratungszentren aus Stuttgart und dem Klinikum Freiburg zusammen. Das Sozialministerium fördert die neue Stelle mit jährlich 250.000 Euro. Wofür es diesen Anlaufpunkt in Baden–Württemberg braucht, worunter Betroffene leiden und wie ihnen dort geholfen werden soll, erklärt Vera Sompon, Gründerin von Sompon Socialservices, im Interview mit der Schwäbischen Zeitung.

Was ist weibliche Genitalverstümmelung?

Weibliche Beschneidung wird in asiatischen oder afrikanischen Ländern praktiziert. Die äußeren Genitalien der Frauen und Mädchen werden beschnitten und zum Teil komplett entfernt. Das wird ohne Narkose durchgeführt.

Die Frauen haben oft lebenslang sehr starke Schmerzen, etwa wegen ihrer Regelblutung, beim Geschlechtsverkehr oder einer Geburt.

Vera Sompon

Wenn man die Mädchen fragt, wollen sie das gar nicht. Sie werden gezwungen oder zumindest sehr gedrängt. Die Eltern oder Mütter allein entscheiden oft für die Mädchen und die Frauen. Zum Teil sind die Kinder erst zwischen zwei und vier Jahre alt, einige Klientinnen berichten sogar, sie seien als Baby beschnitten worden. Aber es wird auch bei erwachsenen, verheirateten Frauen gemacht.

Welche Gefahren birgt diese Praktik für die Mädchen und Frauen?

Man kann verbluten und stirbt. Wer überlebt, leidet oft unter Infektionen. Oft sind die Instrumente, die verwendet werden nicht sterilisiert. Die Frauen haben oft lebenslang sehr starke Schmerzen, etwa wegen ihrer Regelblutung, beim Geschlechtsverkehr oder einer Geburt. Wenn das nicht aufgearbeitet wird, entstehen auch psychische Probleme bis hin zu Traumata. Diese Gefahren sind tabuisiert, es wird kaum darüber gesprochen, das verschärft das Problem.

Wie verbreitet ist das Problem in Baden–Württemberg?

In Baden–Württemberg haben wir schätzungsweise 8.000 Frauen, die betroffen sind, in ganz Deutschland etwa 66.000 Frauen. Ihre Menschenrechte werden verletzt, das Wohl der Kinder gefährdet. Ihre Familien stammen aus jenen Ländern wie zum Beispiel Gambia oder Nigeria, in denen das praktiziert wird.

In Deutschland gilt die Praktik als Straftat. Dass FGM direkt in Baden–Württemberg praktiziert wird, ist nicht belegt. Manche Familien, die in Baden–Württemberg leben, bringen ihre Kinder in ihr Heimatland, dort werden sie beschnitten und dann bringen sie sie wieder her. Und damit das aufhört, müssen wir Aufklärungsarbeit leisten, wir müssen das Bewusstsein schaffen, dass das eine Menschenrechtsverletzung und eine Kindeswohlgefährdung ist.

Warum wird das praktiziert?

Es ist unterschiedlich von Land zu Land und zwischen den Gruppierungen. Der wichtigste Grund sind die sozialen Normen. Wenn eine Frau sich der Praktik nicht unterzieht, gilt sie als unrein und nicht heiratsfähig.

Und es wird aus kulturellen Gründen gemacht: Es wurde in diesen Gesellschaften immer gemacht, also wird es von einer auf die andere Generation übertragen. Aber es gibt auch wirtschaftliche Gründe. Es sind vor allem ältere Frauen, die das praktizieren. Für dieses „Ritual“ bekommen sie Geld und Geschenke. Das ist eine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Was passiert dort, wenn jemand nicht beschnitten ist?

Man kennt die Leute aus dem Dorf, die das nicht gemacht oder bei ihren Töchtern verweigert haben. Diese Frauen werden auch sozial ausgegrenzt. Oft werden auch sich bietende Möglichkeiten genutzt, Erwachsene zu beschneiden. Ich kenne Frauen, die schwanger waren und Gott sei Dank wollten ihre Väter oder Ehemänner das nicht, sonst hätte man die „Beschneidung“ noch bei der Geburt der Kinder im Krankenhaus durchgeführt.

Wie hilft die neue Beratungsstelle Mädchen und Frauen?

Die Frauen, die in dieser Situation leben, sehen das als normal an. Wir haben die Aufgabe, sie zu begleiten, zu beraten, Informationen zu geben — damit sie verstehen, dass das nicht normal ist. Wir werden Fortbildungen für Fachkräfte und Informationsveranstaltungen für Interessierte durchführen.

Wir arbeiten mit Partnern zusammen, zum Beispiel „Wildwasser Stuttgart e.V.“. Die bieten zum Beispiel Selbsthilfegruppen, in denen die Frauen ihre Traumata aufarbeiten können. Und dann gibt es bei uns auch die medizinische Versorgung. Das Freiburger Zentrum für Frauen mit Genitalbeschneidung kann die Frauen behandeln und ihnen helfen.

Die Frauen erreichen wir über Mundpropaganda. Sompon Socialservices ist bereits eine Anlaufstelle für Menschen mit Migrationsbiografie. Durch unsere Angebote haben wir direkten Kontakt zu den betroffenen Mädchen und Frauen.

Was müsste die Politik in Bund und Land tun, um das Problem einzudämmen?

Ich denke, der erste Schritt ist mit dieser Anlaufstelle schon getan. Wir sprechen mit der Landesregierung auch darüber, wie es weiter gehen kann und wie wir die Arbeit ausbauen können. Das Projekt ist zunächst auf zwei Jahre begrenzt — doch nach zwei Jahren ist das Problem längst nicht gelöst.


Die zentrale FGM/C-Anlaufstelle Baden-Württemberg ist über ihre Webseite fgmc-bw.de zu finden. Betroffene können sich auch direkt vor Ort, in der Marktstraße 8 in Göppingen, oder telefonisch unter 07161/9191850 melden. Auch per Email an [email protected] kann der Kontakt zur Beratungsstelle aufgenommen werden. Partner der neuen Beratungsstelle sind Wildwasser Stuttgart e.V., die Beratungsstelle Yasemin, das Fraueninformationszentrum FiZ im VIJ e.V. und das Freiburger Zentrum für Frauen mit Genitalbeschneidung.