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Bankenkrise und Toblerone

Verblasst der Mythos der Schweiz?

St. Margrethen / Lesedauer: 9 min

Bei den Schweizern bricht Stück für Stück ihr nationales Selbstverständnis zusammen. Das Ende der Credit Suisse ist dabei nur der jüngste Fall des gefühlten Niedergangs.
Veröffentlicht:25.03.2023, 05:00

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Die Stimmung ist schicksalsergeben: „Das war einmal. Es ist aber alles vorbei“, meint Erika Herzog. Sie hat sich kurz vor Mittag am Kiosk beim Bahnhof von St. Margrethen mit einigen anderen älteren Leuten getroffen. Etwas trinken, ein Schwatz, während die Frühlingssonne den Schweizer Grenzort am östlichen Bodensee erwärmt. Das Thema: Was von einer einstigen eidgenössischen Herrlichkeit noch übrig ist, nachdem nun auch die Credit Suisse verschwindet. „Nichts mehr. Wir sind inzwischen überall bloß noch Bittsteller“, glaubt Hans Peter Dosch, ein Ruheständler.

Eingefleischte Eidgenossen dürften in diesen Tage einmal mehr bitterlich leiden. Die1856 als Schweizerische Kreditanstalt gegründete Credit Suisse war zumindest im historischen Gedenken ein nationaler Mythos. Zuverlässige Großmacht des Geldes, gesegnet mit eidgenössischer Biederkeit und finanzieller Schläue. Ohne ihre Kredite wäre der erste, vor rund 140 Jahren fertiggestellte Gotthardtunnel über ein paar Löcher im Berg nicht hinaus gekommen. Wobei durch die Bohrerei und das Sprengen unter Tage die nächste Legende entstand: Schweizer brechen die Herrschaft der Berge über alpine Verkehrsachsen.

Besonders günstiger Stern

Über Generationen hat sich noch einiges mehr angesammelt, das die Eidgenossen an einen besonders günstigen Stern glauben ließ — ganz nach dem Motto: kleines Land, aber oho. Auch die schwülstige Nationalhymne, auch als Schweizer Psalm bekannt, transportiert dieses Gefühl. So lautet der erste Vers: „Trittst im Morgenrot daher, Seh’ ich dich im Strahlenmeer, Dich, du Hocherhabener, Herrlicher! Wenn der Alpenfirn sich rötet, Betet, freie Schweizer, betet! Eure fromme Seele ahnt, Eure fromme Seele ahnt, Gott im hehren Vaterland, Gott, den Herrn, im hehren Vaterland.“

Einer aus der St. Margrether Kioskrunde summt die Melodie kurz an — mit zynischem Unterton. Nach seinen Worten überlegt der Mann, ob er angesichts der gefühlten Misere seine Pension nicht in Thailand verjuxen soll. Was sonst von ihm zwischen ein paar Schlucken Büchsenbier als Gesprächsbetrag kommt, bewegt sich im Bereich der Nostalgie. Womöglich klingt dies für die junge Generation fast wie ein Ausflug ins Sagenhafte.

Anheimelnde Werte

Für was stand die Schweiz nicht alles? Für Seriosität, Pünktlichkeit, Wohlstand, Stabilität sowie Wehrhaftigkeit. Ein Sehnsuchtsland für all jene, die diese Werte anheimelnd finden. Die kleine Heidi aus dem Roman von Johanna Spyri verkörperte Alpenidylle. Die Armbrust–schießende Nationalikone Wilhelm Tell durfte für Tyrannentrutz und eidgenössischer Selbstbehauptung stehen. Sein wichtigstes Denkmal im zentralschweizerischen Altdorf zeigt ihn praktisch in der Gestalt eines ehernen Superhelden.

Dass Tell historisch ebenso schwer zu greifen ist wie der englische Robin Hood tat nie etwas zur Sache — zumal der schwäbische Dichterfürst Friedrich Schiller 1804 die Legende in wohlfeile Worte fasste. Siehe den legendären Satz: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Es führt kein andrer Weg nach Küssnacht.“ Dort soll Tell dann den verhassten Vogt Gessler mit einem Armbrustbolzen in eine andere Welt geschickt haben. Einfach eine zu schöne Vorstellung — zumindest für Liebhaber einfacher Weltsichten.

Schmerzhafte Risse

Doch die ganze eidgenössische Herrlichkeit bekam bereits Ende der 1980er Jahre erste schmerzhafte Risse. Schuld daran waren friedensbewegte Jungsozialisten. Schon aus ideologischen Gründen wollten sie die damals noch existierende Sowjetunion nicht als Weltanschauungsgegner und böse Macht sehen, die den Schweizern ihre geliebten Franken wegnimmt. Ihnen gelang es schließlich, eine Volksinitiative zur Abschaffung der Armee zu starteten.

Worauf der hochgerüstete Kleinstaat, die Alpenfestung mit dem Gotthard als Rückzugsmöglichkeit fürs letzte Gefecht, plötzlich Seltsames erlebte: öffentliche Massenanwandlungen von Pazifismus. Ende November 1989 votierten 35,6 Prozent der Abstimmungsteilnehmer für das Ende des Militärs. Ein Schock für alle jene, die nach gesetzlicher Reglung stolz das Sturmgewehr samt Munition im heimischen Kleiderschrank hatten, um jederzeit einsatzfähig zu sein.

Nur noch bedingt verteidigungsfähig

„Ja, bei uns war das noch selbstverständlich“, berichtet Rudolf Aebi von der Kioskrunde am Bahnhof von St. Margrethen. Der heutige Rentner durfte beim jährlich wiederkehrenden Milizdienst eine der in die Berge gesprengten Artilleriefesten bewachen. Heutzutage muss das Schweizer Militär nach diversen Sparrunden und Reformen eingestehen, dass es nur bedingt verteidigungsfähig ist. Eine Bestandsaufnahme nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ergab: Noch nicht einmal die Luftabwehr würde funktionieren.

Neben der Militärmisere gab es ab den 1980er Jahren noch eine weitere schleichende Entwicklung, die dem Mythos von Schutz und Trutz entgegenstand: ein plötzlich geschärfter Blick auf die eidgenössische Rolle im Zweiten Weltkrieg. Pathetisch war eigentlich immer gefeiert worden, wie Wilhelm Tells mobilgemachte Erben tapfer die Grenzen gegen Adolf Hitlers Drittes Reich schützten. Nun ja, auf einige Winke aus der Reichshauptstadt Berlin arbeitete die Schweizer Rüstungsindustrie fleißig für die Wehrmacht — die oft beschworene Neutralität hin oder her. Als Fußnote sei dazu vermerkt, dass die Eidgenossen aktuell den schwer ringenden Ukrainern nichts Wehrhaftes liefern — aus Gründen der Neutralität.

Die dunklen Zeiten des Zweiten Weltkriegs

Aber noch einmal zurück zu den dunklen Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Berlin hatte den kleinen Nachbarn auch wissen lassen, dass er flüchtende Juden an der Grenze besser nach Deutschland zurückweisen sollte. Was in der Regel brav geschah. Wer dennoch Juden durchließ, wie etwa der St. Galler Grenzbeamte Paul Grüninger, musste in seinem Schweizer Heimatland mit Bestrafung und Verfehmung rechnen. Grüninger wurde erst 1993 rehabilitiert — 21 Jahre nach seinem Tod.

Wobei ergänzt werden muss, dass solche Formen der Vergangenheitsbewältigung eher bei elitären akademischen Kreisen in Zentren wie Zürich auf Interesse gestoßen sind. Am St. Margrehter Kiosk heißt es dazu kurzum und klassisch: Man solle doch die alten Geschichten ruhen lassen. Dafür ist ein spezielles singuläres Ereignis unvergessen und gerne angesprochen. Weil konkret fassbar, gilt es als zentraler Start des Niedergangs: das Grounding der stolzen Swissair. Es geschah am helllichten Nachmittag des 2. Oktobers 2001, einem Dienstag.

Die Swissair geht Pleite

Der höchst renommierten Luftfahrtlinie war das Geld ausgegangen. Sie musste ihre Flugzeuge am Boden lassen. Eine erschütternde Nachricht, spielte Swissair doch in der Liga der ganz Großen. Mit dem Schweizer Kreuz an der Heckflosse galten ihre Maschinen als Inkarnation eidgenössischer Solidität. „Dass die Swissair nicht mehr fliegt, konnte man damals kaum glauben“, erinnert sich ein weiterer Teilnehmer der St. Margrether Kioskrunde.

Ursache ihres Absturzes war der ambitionierte Versuch, eine Allianz mit teils maroden Luftfahrtlinien anzuführen. Dabei verlupften sich die rührigen Schweizer. Dass dann die darniederliegende Swissair ausgerechnet von der deutschen Lufthansa übernommen wurde, vertiefte das Trauma. Doch der nächste nationale Schock ließ nicht allzu lange auf sich warten. Er kam mit der internationalen Finanzkrise 2007/2008.

Gebeutelte Banken

Sie beutelte den zweiten eidgenössischen Bankriesen, die UBS, ähnlich traditionsreich wie die Credit Suisse. Staat und Schweizerische Nationalbank mussten das Edel–Institut vor der Pleite retten. Es gelang. Fortan machten die UBS–Manager vieles richtig, ihre Pendants bei der Credit Suisse hingegen nicht — mit der seit vergangenem Wochenende bekannten Folge, dass die Kreditanstalt nun zur UBS gehört. Ist damit also doch irgendwie in letzter Minute der Bankplatz Schweiz gerettet worden? Insider sagen abwartend: Das wird sich weisen. Am Kiosk von St. Margrethen verweist indes Erika Herzog Kaffee schlürfend darauf hin, dass auch das heimische Bankwesen nicht mehr das sei, was es war.

In der Tat: Bankgeheimnis und Nummernkonten sind passé — wenigstens für Ausländer. Dabei halten viele Schweizer die finanzielle Verschwiegenheit für eine zentrale Errungenschaft ihrer Nation — vielleicht auch, weil sie tatkräftig zur Wirtschaftsleistung betrug. Selbst in der Comic–Welt war das legendäre Bankgeheimnis zu finden. So versteckten sich Asterix und Obelix bei ihren Schweizer Abenteuer Schließfächer des Bankiers Vreneli. Doch nach der Finanzkrise gab es ein internationales Einverständnis von Berlin bis Washington, die Schweizer Institution zu kippen. Diktatoren und andere Schurken sollten ihr gesammeltes Vermögen nicht mehr in eidgenössische Safes retten können, ebenso wenig Steuerhinterzieher. Schluss mit der Steueroase Helvetia.

Die Drohung mit der Kavallerie

Der seinerzeitige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) hatte 2009 auch gleich die Machtverhältnisse deutlich gemacht. Er deutete an, dass man bei einer schweizerischen Widerborstigkeit auch die Kavallerie schicken könnte. Ein äußerst schmerzlicher Stich ins Herz der tapferen Eidgenossen, den sie nur mit dem Hinweis auf eine gerne beklagte deutsche Arroganz mildern konnten. Doch solche Wunden des Bedeutungsschwunds brechen immer wieder auf. Neben dem großen Nachbarn im Norden spielt vor allem die EU den gerne hergenommenen Bösewicht. „Brüssel pfeift, und unsere Politiker stehen stramm“, wird dazu in der St. Margrethener Kioskrunde geschimpft.

Tatsächlich scheint eine EU–Mitgliedschaft in der Schweiz bis heute nicht mehrheitsfähig zu sein. Als offizieller Grund nennt die Regierung den Status der Neutralität. Durch zig bilaterale Verträge haben sich die Eidgenossen aber mit der EU verknüpft. Mit der Folge, dass sie an europäische Vorgaben gebunden sind, ohne in Brüssel mitreden zu können. Praktisch ein Schuss in den eigenen Fuß.

Der Emmentaler bleibt

Was bleibt aber denn nun? Gute Frage. Zuletzt musste sogar der nationale Mythenberg Matterhorn von der Toblerone–Packung verschwinden. Der Grund: Die ureigene nationale dreieckige Schoggi wird künftig in der Slowakei produziert. „Aber der Zug fährt wenigstens noch pünktlich“, meint Hans Peter Dosch von seinem Kioskstuhl mit Blick auf den nahen Bahnhof von St. Margrethen. Was laut Statistik stimmt. Ein anderer Gesprächspartner scherzt zynisch dazu: „Den Emmentaler haben wir auch noch. Und dessen Löcher sind nicht einmal größer geworden.“