Asylbewerber vor Gericht

Weltweit einmaliger Prozess in Rorschach um diesen mysteriösen Asylbewerber

Rorschach / Lesedauer: 9 min

Das kleine Rorschach am Bodensee gegen das diktatorische Weißrussland. Es geht um Todesschwadronen, Leichen - um haarsträubende Schilderungen. Im Mittelpunkt: Juri Garawski.
Veröffentlicht:18.09.2023, 19:00

Von:
  • Uwe Jauss
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Friedlich liegt die eidgenössische Kleinstadt Rorschach am Bodensee. In den Hafen laufen Schiffe der Weißen Flotte ein. Durch ehrwürdige Gassen mit wuchtigen Bürgerhäusern flanieren Passanten.

Doch Rorschach beherbergt auch ein Kreisgericht, die erste Instanz bei den Schweizern, grob vergleichbar mit einem deutschen Amtsgericht. In seinem Geltungsbereich gibt es wiederum einen weißrussischen Asylbewerber namens Juri Garawski.

Durch diese Verknüpfung verhandeln die Rorschacher Richter am Dienstag in einem Prozess, welcher in der Schweiz wahlweise „als weltweit einmalig“ oder „historisch“ verstanden wird.

Bescheidener wollen es die Eidgenossen offenbar nicht sehen. Falsch liegen sie damit aber auch nicht. Denn tatsächlich steht nicht nur der Asylbewerber vor Gericht, sondern ebenso Lukaschenkos Regime.

Folgerichtig nimmt der Fall auch weit entfernt vom Bodensee seinen Anfang: in der weißrussischen Hauptstadt Minsk und drumherum. Er führt in die Welt von Lukaschenkos Todesschwadronen, von Killer–Trupps, die unliebsame Personen beseitigen. Wohl kein Regisseur von James–Bond–Filmen hätte sich die wirklichen Ereignisse haarsträubender einfallen lassen können. Teil davon ist der besagte Juri Garawski.

Angebliche Gewissensbisse

Der kräftige gebaute, etwa zwei Meter große Hüne taucht im Herbst 2018 in der Schweiz auf: ein Flüchtling, der angibt, unter abenteuerlichen Umständen aus Weißrussland entkommen zu sein. Was aber vorerst doch nur ein routinemäßiges Asylverfahren verheißt.

Der heute 45–jährige muss darin wie jeder Flüchtling darlegen, dass er an Leib und Leben bedroht ist. Ein Nachweis, für Lukaschenko ein ernsthaftes Problem zu sein, würde dafür wohl ausreichen. Am 7. Januar 2019 kommt es durch Beamte des Staatssekretariats für Migration in Zürich zu einer Befragung. Garawski plagen angeblich Gewissensbisse. Er erzählt erstmals seine Killer–Geschichte.

Juri Garawski ist offenbar ein Mann mit finsterer Vergangenheit. Erstaunlich, dass er sich in der Vergangenheit von Medien offen fotografieren hat lassen. Er tritt ebenso unter seinem vollen Namen auf. Im Auftrag des weißrussischen Dikators Alexander Lukaschenko will er als Helfer an drei Mordaktionen beteiligt gewesen sein. Eines der Opfer war der Oppositionelle Juri Sacharenko. (Foto: Deutsche Welle)

Sie führt zurück ins Jahr 1999. Lukaschenko sichert zunehmend mit harschen Methoden seine Macht ab, nachdem er fünf Jahre zuvor zum Präsidenten gewählt worden war. Für spezielle Drecksarbeiten hat er die zum Innenministerium gehörende Spezialeinheit Sobr formen lassen, offiziell eine Truppe zur Kriminalitätsbekämpfung.

Tun Sie es so, dass ich keinen Schmerz verspüre.

soll Juri Sacharenko gesagt haben.

Garawski gehört ihr an, ist sogar zum stellvertretenden Kommandeur befördert worden. Was dann geschieht, beruht auf weiteren Schilderungen des Mannes. Zuerst geht es um den Mord an Juri Sacharenko, einem führenden charismatischen Oppositionellen, der zuvor aber auch Innenminister unter Lukaschenko gewesen war.

Vom Erdboden verschwunden

Jedenfalls kennt man Sacharenko in Weißrussland. Ab dem 7. Mai 1999 ist er aber vom Erdboden verschwunden. Was laut Garawski wortwörtlich verstanden werden kann. Demnach passiert folgendes: Das Opfer ist auf dem Heimweg, wird aber kurz vor 22 Uhr vor seiner Wohnung in Minsk gekidnappt. Beteiligt sind Garawski, sein Chef und zwei weitere Sobr–Männer.

Sie werfen den entführten, mit Handschellen gefesselten Sacharenko in einen Opel Omega, ziehen ihm eine Haube über den Kopf und brausen los. Ein zweites Fahrzeug mit vier weiteren Männern folgt. Offenbar weiß Sacharenko, was die Stunde geschlagen hat. „Tun Sie es so, dass ich keinen Schmerz verspüre“, sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Das Killerkommando fährt mit seinem Opfer durch die Dunkelheit. Ziel ist ein Schießplatz des Innenministeriums in den Minsker Außenbezirken. Dort zerren Lukaschenkos Schergen ihr Opfer aus dem Auto, lassen es einige Minuten auf dem Boden liegen und rauchen indes eine Zigarette.

Dann nimmt sich der Oberboss eine Pistole der Marke Makarow mit Schalldämpfer. Von hinten schießt er dem Entführten zweimal ins Herz. Die Leiche wird per Auto Richtung Krematorium auf den Minsker Nordfriedhof transportiert. Garawski fährt nicht mit. Deshalb bleibt für ihn Sacharenkos Verbleib ungewiss.

Daheim ein Todeskandidat

Dies ist nicht seine einzige Erzählung. Kann das Gesagte aber überhaupt glaubhaft sein?

Zumindest die Beamten der Schweizer Flüchtlingsbehörde haben zuerst kaum etwas für bare Münze genommen. Beweise hat Garawski keine, weder Leichen noch Augenzeugen oder Spuren. Der erste Verdacht der Beamten: Garawski reimt sich etwas zusammen, um nicht nach Weißrussland abgeschoben werden zu können.

Dann klar ist: Mit solch einer Geschichte wäre er daheim ein Todeskandidat. Deshalb verbietet sich auch in der Schweiz eine Abschiebung. Gleichzeitig betont Garawski, nie selber jemanden getötet zu haben. Als bloßer Helfer hätte er deshalb nur eine überschaubare Strafe zu erwarten.

Wird Garawski verurteilt, macht das Rorschacher Gericht klar, dass es Lukaschenkos Regime für das Verschwinden von Sacharenko, Gontschar und Krasowski für verantwortlich hält.

Neue Züricher Zeitung

Schließlich nimmt sich die Staatsanwaltschaft von St. Gallen der Sache an. Garawskis zugewiesener Aufenthaltsort in der Rorschacher Gegend gehört zu diesem Kanton. Ermittlungen beginnen.

Des Weiteren äußert sich Garawski mit vollem Namen samt Porträt–Bild immer wieder gegenüber diversen Medien wie der Neuen Zürcher Zeitung und der Deutschen Welle. Aussagen von Angehörigen des getöteten Sacharenkos kommen hinzu, dazu Berichte aus Kreisen von immigrierten Oppositionellen.

Diese scheinen Garawskis Berichte glaubhaft zu ergänzen, während wiederum er selber höchst detailliert erzählt — viel detaillierter als man es im Rahmen dieses Artikels darstellen könnte. Täterwissen. Der Schluss der Staatsanwaltschaft: Das kann jemand nicht einfach so erfinden. Sie erhebt Anklage. Sie lautet auf „Verschwindenlassen“ in drei Fällen.

Die Leichen werden in einer Grube verscharrt

Sacharenkos Exekution ist nicht die einzige, bei der Garawski mitmischt. Im September 1999 geschehen zwei weitere Morde. Opfer sind die prominenten Oppositionellen Wiktor Gontschar und Anatoli Krasowski, beides Politiker, Krasowksi dazu noch Geschäftsmann.

Nach einem abendlichen Saunabesuch sind sie in ihr Auto gestiegen. Dann schlägt das Sobr–Team zu, zerrt die beiden brutal aus dem Fahrzeug. Blut spritzt. Gontschar und Krasowski werden gefesselt abtransportiert. Ziel ist dieses Mal der Wald hinter einer Kaserne nördlich von Minsk.

Wieder schießt Garawskis Chef. Die Leichen werden ihrer Kleider beraubt und dann in einer tiefen Grube verscharrt — verschwunden auf Nimmerwiedersehen.

Prinzipiell erscheint der Fall als sehr eindeutig. Es gibt ein Geständnis von Garawski. Von Rechtswegen wäre die Schweizer Justiz aber vor noch nicht allzu langer Zeit mit einer Anklage gescheitert — aus sehr simplen Gründen. Garawski ist Weißrusse, die Verbrechen geschahen in Weißrussland, die Opfer stammen vor dort.

Eidgenössische Richter sind hier eigentlich nicht zuständig. Gleichzeitig wäre der Tatbestand einer Entführung oder der Beihilfe zur Entführung wohl verjährt gewesen. Doch rechtzeitig für den Fall Garawski hat sich etwas im Schweizer Recht geändert.

Eine neue Schweizer Gesetzgebung

Dies hat mit einer 2010 beschlossenen UN–Konvention zu tun. Sie soll Menschen Schutz vor dem „Verschwindenlassen“ gewähren, einer gern gewählten Einschüchterungsmethode in totalitären Staaten. Die Vereinbarung sieht vor, dass entsprechende Regime und ihre Schergen global verfolgt werden können und passt so in die Weiterentwicklung des Völkerrechts.

Juri Garawski muss sich vor einem Schweizer Kreisgericht verantworten. Der Asylbewerber will Teil von Lukaschenkos Todesschwadrone Sobr gewesen sein und fürchtet nun um sein Leben, wenn er abgeschoben wird. (Foto: Deutsche Welle)

Das Schweizer Parlament hat der Konvention 2015 zugestimmt, gefolgt mit einer gesetzlichen Anpassung. Der neue Artikel 185 im Strafgesetzbuch der Eidgenossen macht möglich, über staatlich organisierte oder gebilligte Entführungen und Morde richten zu können, sollten solche Fälle im Land der Tat nicht verfolgt werden.

Eine Hürde existiert aber in Garawskis Fall noch. Nach Artikel 185 kann er nur bestraft werden, wenn seine Taten mit dem weißrussischen Regime verknüpft sind. Das heißt, es muss klar sein, dass der Auftrag von politischen Stellen gekommen ist. Hier liegt der Knackpunkt und die wahre Bedeutung des Prozesses.

Die Neue Zürcher Zeitung analysiert dazu: „Wird Garawski verurteilt, macht das Rorschacher Gericht klar, dass es Lukaschenkos Regime für das Verschwinden von Sacharenko, Gontschar und Krasowski für verantwortlich hält. Noch nirgendwo auf der Welt hat je ein Gericht dies festgestellt.“

Mehr als 30 missliebige Personen getötet

Rohrschachs Richter würden also am Bodensee das System des Diktators erstmals höchst justiziabel als verbrecherisch brandmarken. Bisher ist es nämlich bei der bloßen Annahme geblieben. So geht der oppositionelle weißrussische Politologe Alexander Feduta davon aus, dass Lukaschenkos Regime inzwischen über 30 missliebige Personen durch verdeckte Morde beseitigt hat.

Als 2004 ein Sonderermittler des Europarats zum Verwinden solcher Menschen ermittelte, gab es Spuren bis ganz noch oben im Lukaschenko–System. Mehr ließ sich nicht feststellen.

Weil sich dies nun ändern könnte, ist das internationale Interesse am Prozess hoch. Viel Publikum wird erwartet. Weshalb das Kreisgericht Rohrschach die Verhandlung aus ihren eigenen beschränkten Räumlichkeiten in einen größeren Saal des Kantonsgerichts St. Gallen verlagert hat. Mit ein bis zwei Verhandlungstagen wird gerechnet: Dienstag, vielleicht noch Mittwoch.

Die Kürze überrascht, hat aber damit zu tun, dass sich die Anklage ausschließlich auf Garawskis Aussagen und damit sein Geständnis stützt. Das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß liegt bei drei Jahren Haft, wovon ein Jahr zu vollziehen sei. Der Antrag auf einen eher geringen Freiheitsentzug hat mit Garawskis Kronzeugenrolle zu tun und ist ein weiterer Grund, weshalb keine höhere Instanz urteilt.

Wie der Prozess ausgeht, ist unklar. Einen Schuldspruch soll es aber auf jeden Fall geben. Reichen Garawskis Aussagen nicht für eine Verurteilung aus, will ihn die Staatsanwaltschaft wegen Irreführung der Rechtspflege strafen. Für sich selber hat Garawski schon vor Jahren klargemacht: Die Schweizer Justiz sei nicht sein Problem. Ihr habe er sich ja offenbart.

Garawski fürchte eher ein Mordkommando aus seiner alten Heimat. Nach seinem Abschied aus der Sobr–Truppe will er schon 2007 in Minsk einen rätselhaften Lkw–Unfall nur schwer verletzt überlebt haben.