Senioren am Steuer

Wann ist der richtige Zeitpunkt, den Autoschlüssel abzugeben?

Baden-Württemberg / Lesedauer: 9 min

Viele ältere Menschen auf dem Land sind von ihrem Auto abhängig, sollten aber aus gesundheitlicher Sicht nicht mehr selbst fahren. Über Probleme autofahrender Senioren.
Veröffentlicht:15.03.2023, 21:45

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Aus einem Familien–Spaziergang wird eine Tragödie: In Scheidegg im Kreis Lindau hat am letzten Donnerstag des vergangenen Jahres ein 89–Jähriger zwei Frauen auf dem Gehweg angefahren. Für eine der beiden Frauen kommt jede Hilfe zu spät — sie stirbt wenig später im Krankenhaus. Der fahrende Senior hatte die zwei Damen schlichtweg übersehen.

Und es ist kein Einzelfall. In Albstadt im Zollernalbkreis hatte im Juli 2022 eine Autofahrerin an einer Einmündung die Vorfahrt missachtet und war in die Seite eines anderen Autos geprallt. Die 86–jährige Unfallverursacherin erlag ihren Verletzungen im Krankenhaus.

Fahrtauglichkeit ist individuell unterschiedlich

Zwei tödliche Unfälle aus der Region, zweimal verursacht von älteren Menschen — und beide Male haben die Fahrer die Verkehrssituation wohl aufgrund ihres Alters falsch eingeschätzt. Verkehrsunfälle, bei denen Senioren beteiligt oder schuldig sind, vermeldet die Polizei fast täglich.

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Autofahren mit über 70

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qKommentar

Das wirft die Frage auf: Ab welchem Alter sollte man sich besser nicht mehr hinters Steuer setzen? Die Auflösung vorneweg: Eine allgemeingültige Antwort zu finden, ist unmöglich — der Fitness– und Gesundheitszustand von Menschen ist dafür viel zu unterschiedlich und hängt nicht nur vom Alter ab. Während sich mancher mit 70 schwertut, die Verkehrslage zu überblicken, sind andere noch mit weit über 90 Jahren sicher auf der Straße unterwegs — wenn auch häufig langsam.

Senioren sind nicht die Hauptunfallverursacher

Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass autofahrende Senioren nur bedingt zur Risikogruppe zählen. Menschen über 65 Jahren haben laut Statistischen Bundesamt im Jahr 2021 etwa 17 Prozent der Autounfälle verschuldet, bei denen Personen zu Schaden gekommen sind.

„Also deutlich weniger Unfälle als ihrem Bevölkerungsanteil von rund 22 Prozent entsprechen würde“, sagt Julian Häußler vom ADAC. Zum Vergleich: Fahranfänger zwischen 18 und 25 Jahren verschulden die meisten Verkehrsunfälle und sind laut ADAC in fast jeden dritten Verkehrsunfall verwickelt.

Während bei Fahranfängern meist überhöhte Geschwindigkeit und mangelnde Fahrpraxis zu Unfallursachen zählen, können bei Senioren mit zunehmendem Alter körperliche Einschränkungen auftreten.

Julian Häußler vom ADAC

Auffällig sind die verschiedenen Unfallursachen in den jeweiligen Altersgruppen. „Während bei Fahranfängern meist überhöhte Geschwindigkeit und mangelnde Fahrpraxis zu Unfallursachen zählen, können bei Senioren mit zunehmendem Alter körperliche Einschränkungen auftreten“, erklärt Häußler. Dazu gehöre nachlassendes Seh– oder Hörvermögen sowie Beeinträchtigungen durch die häufigere Einnahme von starken Medikamenten.

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Das Alter schränkt die Wahrnehmung komplexer und schnell auftretender Verkehrssituationen ein — beispielsweise bei Überholmanövern oder wenn ein Reh auf die Straße springt. Senioren bauen laut Statistischem Bundesamt vor allem beim Abbiegen, Rückwärtsfahren sowie nach missachteter Vorfahrt Unfälle. „Auch beim Parken, Rangieren und Wenden kann es durch die körperlichen Einschränkungen im Alter zu Schwierigkeiten kommen“, sagt Häußler.

Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil sind Senioren überproportional häufig in schwere Unfälle verwickelt und selbst stärker gefährdet. Die 868 verstorbenen Menschen über 65 machen einen Anteil von 34 Prozent aller Verkehrstoten in Deutschland aus.

Zahl der Verkehrstoten im Südwesten rückläufig

Die Zahl der Verkehrstoten in Baden–Württemberg ist im Jahr 2022 allerdings rund 20 Prozent unter dem Vor–Corona–Niveau, wie der baden–württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) bei der Vorstellung der Unfallbilanz am Dienstag in Stuttgart feststellte: „Es ist gut, dass die Zahl der Verunglückten und Toten im Straßenverkehr gegenüber 2019 zurückgegangen ist, aber nach wie vor gilt: Jede und jeder Getötete und Schwerverletzte ist eine und einer zu viel.“ Jeden Tag stirbt eine Person im Südwesten bei einem Verkehrsunfall.

Jede und jeder Getötete und Schwerverletzte ist eine und einer zu viel.

Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne)

Die entscheidende Frage für ältere Menschen im Straßenverkehr bleibt: Wann ist der richtige Zeitpunkt, die Autoschlüssel abzugeben? Seit Jahren werden verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie gesetzlich darauf eingewirkt werden könnte. Die meisten Vorschläge polarisieren, eine Lösung ist in Deutschland nicht in Sicht.

Möglichkeit 1: Verpflichtende Altersgrenze

Eine verpflichtende Altersgrenze, die Senioren ab einem gewissen Alter dazu zwingt, den Führerschein abzugeben. Der ADAC hält das für unangemessen. „Auch wenn der natürliche Alterungsprozess mit individuellen Leistungseinbußen verbunden ist, so kann aus Sicht des ADAC allein vom Alter her nicht pauschal auf die Fahreignung geschlossen werden“, sagt Häußler.

Fahrtüchtigkeit ist keine Altersgröße.

Bernd Ebert vom Landesseniorenrat

Auch Bernd Ebert vom Landesseniorenrat Baden–Württemberg hält von einer gesetzlichen Altersgrenze nichts: „Fahrtüchtigkeit ist keine Altersgröße.“ Der 75–Jährige hält eine Führerscheinabgabe zu einem bestimmten Stichtag schlichtweg für unfair.

Möglichkeit 2: Verpflichtende Fahrtrainings

Ein anderer Vorschlag wäre, ab einem gewissen Alter verpflichtende Fahrtrainings zu absolvieren — sozusagen eine Senioren–Führerscheinprüfung. Für Bernd Ebert vom Landesseniorenrat eine Idee, die kaum umzusetzen ist. „Dafür müsste erst einmal eine Infrastruktur aufgebaut werden, denn es gibt noch viel zu wenig Übungsplätze dafür“, sagt er. Senioren sollten vielmehr freiwillige Angebote nutzen — beispielsweise Fahrsicherheitstrainings, bei denen ältere Teilnehmer ihr Fahrtauglichkeit testen können, ohne Angst zu haben, den Führerschein abgeben zu müssen.

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Solche Angebote gibt es deutschlandweit, „aber ehrlicherweise erreichen wir nicht viele Senioren damit. Es sind viel zu wenig, die sich dafür anmelden“, sagt Ebert. Seniorenkreisverbände seien deswegen aufgefordert, Fahrtrainings mit dem ADAC oder den Verkehrswachten anzubieten.

Der ADAC lehnt gesetzlich verpflichtende Fahrtests ebenfalls ab und setzt auf Eigenverantwortung. „Es ist nicht möglich, die gesamte Fahrleistungskompetenz in einer Labor–Situation zu bewerten“, sagt Julian Häußler vom ADAC. „Tests geben zudem immer nur eine Momentaufnahme wieder.“ Es sei aber wünschenswert, wenn Senioren ihr Fahrkönnen freiwillig bei Fahrtrainings untersuchen.

Vor wenigen Tagen hat diesbezüglich auch die EU–Kommission einen Gesetzesvorschlag  vorgestellt. Demnach sollen Menschen ab 70 alle fünf Jahre ihre Fahrtauglichkeit überprüfen lassen. Allzu streng ist die geplante Vorgabe aber nicht: Die Mitgliedsstaaten sollen selbst entscheiden können, ob sie die Führerschein–Prüfung für über 70–Jährige einführen und ob die Tests verpflichtend oder nur freiwillig sein sollen.

Möglichkeit 3: Meldepflicht für Ärzte

Eine ärztliche Meldepflicht bei Fahruntauglichkeit. Ärzte wären demnach gesetzlich verpflichtet, die Patienten den Behörden zu melden, die aus medizinischer Sicht den Eindruck erwecken, nicht mehr fahrtauglich zu sein. „Dass Ärzte ihre Patienten verpetzen sollen, ist kontraproduktiv für die ärztliche Schweigepflicht“, betont Bernd Ebert vom Landesseniorenrat.

Dass Ärzte ihre Patienten verpetzen sollen, ist kontraproduktiv für die ärztliche Schweigepflicht.

Bernd Ebert

Tatsächlich werde auch immer wieder über ein Modell wie in der Schweiz nachgedacht, sagt Ebert. „Dort gibt es eine verpflichtende Gesundheitsüberprüfung ab 70 Jahren. Mit einem ärztlichen Zeugnis müssen Schweizer alle zwei Jahre nachweisen, dass sie körperlich noch fit genug zum Autofahren sind.“

Hierzulande gibt es eine solche Vorschrift nicht, stattdessen sind „die Ärzte in der Pflicht, ältere Patienten zu beraten und ihnen Empfehlungen auszusprechen, wenn sie glauben, sie sollten besser nicht mehr am Steuer sitzen“, sagt Ebert.

Präventive Maßnahmen helfen

All diese prominent diskutierten Vorschläge sind aber nur schwer umsetzbar. Die Lösung heißt vor allem: Vorsorge. Gemeint sind präventive Maßnahmen wie selbstständige Gesundheitschecks oder freiwillige Fahrsicherheitstrainings.

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Am besten wäre es mit Sicherheit aber, ältere Menschen wären auf ihr Auto gar nicht mehr angewiesen — durch einen gut ausgebauten ÖPNV. „Mobilität sichert die Teilhabe an der Gesellschaft“, sagt Ebert. „Aber wenn man im ländlichen Raum unterwegs sein will, dann braucht man das Auto einfach noch.“

Auch ältere Menschen wollen mobil sein — und teilweise müssen sie das auch, wenn beispielsweise der Arztbesuch ansteht und niemand sie fahren kann. „Es muss der Anspruch an das Verkehrssystem der Zukunft sein, dass man auch vom letzten Dorf aus ein Verkehrsmittel hat, das einen von zuhause wegbringt“, sagt Ebert.

ÖPNV fehlt auf dem Land

Neben dem massiven Ausbau des ÖPNV im ländlichen Raum, müsse speziell für Senioren die Barrierefreiheit im ÖPNV ausgebaut, der Erwerb von Fahrscheinen vereinfacht und Ticketpreise für ältere Menschen billiger werden. „An diesen Stellschrauben kann die Politik die Mobilität für Senioren deutlich attraktiver gestalten“, erklärt Ebert.

Mit dem 49–Euro–Ticket wird es ein preiswertes Angebot im Jahr 2023 geben, von dem auch viele Seniorinnen und Senioren profitieren werden.

Wenke Böhm, Sprecherin des baden–württembergischen Verkehrsministeriums

Eine Altersobergrenze, ärztliche Meldepflichten bei Fahruntauglichkeit sowie verpflichtende Fahrsicherheitstrainings lehnt das Ministerium ab.

Ministerium will Anreize zur freiwilligen Führerscheinabgabe schaffen

Stattdessen sollen Anreize geschaffen werden, damit ältere Menschen freiwillig ihren Führerschein abgeben. So begrüßt das Verkehrsministerium „Aktionen einzelner Landkreise und Verkehrsverbünde in Baden–Württemberg, die für die freiwillige Rückgabe des Führerscheins ein Abo im ÖPNV–Verbund fördern“, betont Böhm.

Im vergangenen Jahr hatte das Verkehrsministerium mit 16 teilnehmenden Verkehrsverbünden einen Kooperationsvertrag für das Projekt „Bus und Bahn statt Führerschein“ geschlossen — unter anderem auch mit dem oberschwäbischen Verkehrsverbund BODO und dem Verkehrsverbund DING im Alb–Donau–Kreis und Ulm.

Mehr Offenheit für die Problematik gefordert

Im Zeitraum von Dezember 2021 bis August 2022 konnten Senioren gegen einen freiwilligen Verzicht auf ihre Fahrerlaubnis ein einmalig kostenloses Jahresticket für den ÖPNV in ihrem Verkehrsverbund beantragen. „Die Landesaktion hat erfolgreich die Chancen eines solchen Angebots bei den Verbünden und Kommunen platziert“, meint Böhm — ohne die genaue Zahl der Führerscheinabgaben zu nennen.

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Auf dem Land fruchten solche Anreize kaum. Hier sei man noch viel stärker auf seinen PKW angewiesen, erklärt Bernd Ebert vom Landesseniorenrat. Er selbst sitzt mit seinen 75 Jahren noch hinterm Steuer, „weil ich körperlich absolut fit bin.“ Trotzdem ist ihm klar, dass er sich aufgrund des fortschreitenden Alters ständig mit seiner Fahrtauglichkeit auseinandersetzen muss.

Man sollte als ältere Person offen und aufgeschlossen für das Thema sein, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird.

Bernd Ebert vom Landesseniorenrat

Denn wenn sich ältere Autofahrer die potenziellen Gefahren im Straßenverkehr bewusst machen, kann das schon helfen, die Zahl der Verkehrsunfälle wie in Scheidegg oder Albstadt zu verringern.