Seegfrörne vor 60 Jahren: Viel Trubel auf 150 Millionen Tonnen Eis
Wasserburg / Lesedauer: 11 min

„Teck, teck, teck, teck, teck, teck, teck. Das ist gegangen, wie bei einem Maschinengewehr.“ Wenn Guido Hess von dem Ereignis erzählt hat, das sein Leben prägte, war es nicht der Krieg – es war die Eisprozession über den zugefrorenen Bodensee im Jahr 1963 als Höhepunkt der „Seegfrörne“. Damals, am 22. Februar vor 60 Jahren, drücken Ungezählte die Auslöser ihrer Kameras – die Ufer sind schwarz vor Menschen.
Im Mittelpunkt: Guido Hess und Walter Speck. Die beiden Schweizer haben die Aufgabe, die geschnitzte Büste des Evangelisten Johannes auf einem Tragegestell „heimzuholen“, wie sie sagen – von Hagnau am Nordufer des Bodensees quer über den See ins gegenüberliegende, acht Kilometer entfernte S
Prozession nach Deutschland
Georg Stärr aus Friedrichshafen-Fischbach verwirklicht den von Dichter Gustav Schwab im „Der Reiter und der Bodensee“ beschriebenen Ritt über den Bodensee, führt mit Haflinger „Monika“ die Prozession nach Deutschland an.
Und so ziehen die Menschen getreu einem Brauch von 1573 los – damals wurde der Heilige Johannes zum ersten Mal über den See getragen. Warum genau, dazu gibt es nur Erklärungsversuche. Die Münsterlinger und die Hagnauer hätten im Seegfrörnenjahr 1573 beschlossen, Ihre Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, heißt es. So trugen die Eidgenossen ihre Johannesbüste über den See.
Hier sehen Sie eine Multimedia-Reportage zur Seegfrörne:
Abends, als die Münsterlinger wieder zurückwollten, hätten sie bemerkt, dass sie ihren Johannes vergessen hätten. Also beschlossen sie, die Büste bei der nächsten Seegfrörne wieder in die Schweiz zu bringen. Lange mussten sie auf ihren Heiligen warten.
Erst 1684 kehrt die Büste zurück - und wird fortan bei jeder Seegfrörne über das Eis getragen. Eine andere Erklärung lautet Guido Hess zufolge: „Den Menschen im süddeutschen Raum ging es um 1573 furchtbar schlecht. Die Ordensfrauen des damaligen Klosters, von denen einige aus dem süddeutschen Raum stammten, wollten den Menschen über dem See Hoffnung bringen und haben deshalb bei der Seegfrörne 1573 die Büste des Lieblingsjüngers von Jesus als Geschenk nach Hagnau geschickt“, so der Schweizer.
Letzte Seegfrörne 1963
Vorboten gibt es schon ab November: lang anhaltenden Frost und sehr geringe Luftbewegungen. Mitte Januar 1963 sind die obersten 50 Meter des Obersees deutlich kälter als in anderen Jahren. Laut Wissenschaftlern ist seine Wärmemenge um mindestens 40 Billionen Kilokalorien geringer als sonst. Die Folge: Der See friert von den Rändern aus zu.
„Das deutsche Fernsehen wittert bereits den ersten Tagesschau-Beitrag und entsendet ein Team an den Untersee, um den Betrieb auf dem Eis dokumentarisch festzuhalten“, heißt es im „Tagebuch vom großen Eis“ am 20. Januar. „Zu früh kommt die Meldung, dass der gesamte Bodensee zugefroren ist. Zunächst ist es lediglich der Untersee.“
Doch das Eis macht sich auch auf dem Obersee breit. Am 5. Februar wird dort der Schiffsverkehr eingestellt. Im Bregenzer Hafen müssen zwei Tage später Schiffe aus dem Eis herausgesägt werden.
Am selben Tag begrüßt Bürgermeister Dr. Tizian drei junge Burschen, die von Wasserburg auf Schlittschuhen über den See nach Bregenz gefahren waren, serviert ihnen eine Brotzeit. Die Fähre zwischen Meersburg und Konstanz pendelt nur noch, damit die Schneise nicht zufriert – teilweise ist sie leer, weil die Menschen lieber auf dem Eis unterwegs sind.
Am 6. Februar legt sie ihre vorläufig letzte Fahrt zurück – dann schließt sich die Eisdecke. Jetzt ist der See auch an seiner breitesten Stelle, über 14 Kilometer zwischen Friedrichshafen und Romanshorn in der Schweiz, begehbar. 150 Millionen Tonnen, schätzen Fachleute, wiegt die Eismasse, die Deutschland, Österreich und die Schweiz verbindet.
Seegfrörne lockt die Massen an
Immer mehr Menschen packt das Seegfrörne-„Fieber“. Von weit reisen sie in teils völlig überfüllten Zügen an den Bodensee, wo sich ein großer Teil des Lebens vom Festland auf das bis zu 30 Zentimeter dicke Eis verlagert. Tausende überqueren wie Julius Pietruske den See zu Fuß, von Langenargen ins schweizerische Arbon schafft er es in 25 Minuten.
Andere nehmen den Schlitten, das Fahrrad oder sogar das Auto. Für die Überquerung gibt es Urkunden und „Eiswanderbescheinigungen“.
„Auch meine älteren Töchter, damals fünf und drei Jahre alt, können sich noch gut an eine Autorunde mit unserem ,Käfer‘ auf dem Eis vor der Insel Reichenau und eine See-Überquerung zu Fuß zu den Schwiegereltern in Konstanz erinnern.
Mit ausgeliehenem Schlitten von Meersburg auf der Fährestraße nach Staad, bei strahlendem Sonnenschein, Bratwurst-Ständen mitten auf dem See und Ordensschwestern mit wehendem Habit auf einer ,Schleifete‘ vor Staad“, erinnerte sich einmal Michael Schnieber, früher stellvertretender Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“.
Manche campen auf dem Eis – ausgestattet mit Rheumadecken, Perlonschlafsäcken und Luftmatratzen. Auf dem Überlinger See feiern Tausende ein Volksfest. In Nonnenhorn wird am 7. Februar der traditionelle Schäfflertanz vor 2500 Menschen aufgeführt – glücklicherweise versetzen die synchronen Schritte der Tänzer das Eis nicht in Schwingungen, es hält stand.
Zwei Tage später bringen Altnauer Schülerinnen und Schüler ein seit 1830 aufbewahrtes Christus-Bild übers Eis nach Hagnau.
Selbst Mist wird über den See gekarrt
Rundflüge sind im Angebot – vor Nonnenhorn gib es einen offiziellen Start- und Landeplatz auf dem Eis. Und: Es werden Autorennen veranstaltet.
Am 5. März schiebt gar ein Bauer aus Arbon eine Schubkarre voller Mist über das Eis nach Langenargen.
Soldaten im Vogelfütter-Dienst
Tote der Eisgefrörne
Die Eisgfrörne fordert aber auch Tote. Am 10. Februar kommt ein 68-jähriger Mann aus Wasserburg auf dem Eis vom Weg ab, bricht mit seinem Fahrrad ein und ertrinkt.
Tragisch ist auch, was am 22. Februar vor Friedrichshafen-Manzell passiert: Ein 13-Jähriger und ein 15-Jähriger werden auf einer
Seegfrörne endet erst im April – Wiederholung unwahrscheinlich
Die Eisprozession von 1963
Zurück zu Guido Hess, einem der Träger der Johannes-Büste: Die Gläubigen beten zum Schutzengel, das Vaterunser und das „Gegrüßet seist du Maria“. Sie
33 Mal war laut Chronisten der See zwischen den beiden Ufern vollständig von Eis bedeckt.
- 875 wird die erste Seegfrörne erwähnt. Die nächste 20 Jahre später: 895
- 1074, 1076
- 1108
- 1217, 1227, 1277
- 1323, 1325, 1378, 1379, 1383
- 1409, 1431, 1435, 1460, 1465, 1470, 1479
- 1512, 1553, 1560, 1564, 1565, 1571, 1573
- 1684, 1695
- 1788
- 1830, 1880
- Zuletzt war dies 1963 der Fall.