Extremes Naturphänomen

Seegfrörne vor 60 Jahren: Viel Trubel auf 150 Millionen Tonnen Eis

Wasserburg / Lesedauer: 11 min

Die „Seegfrörne“ lockte 1963 unzählige Menschen auf den Bodensee. Doch neben Staunen und Heiterkeit gibt es auch tragische Momente. Mit vielen Bildern.
Veröffentlicht:31.01.2023, 19:00

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„Teck, teck, teck, teck, teck, teck, teck. Das ist gegangen, wie bei einem Maschinengewehr.“ Wenn Guido Hess von dem Ereignis erzählt hat, das sein Leben prägte, war es nicht der Krieg – es war die Eisprozession über den zugefrorenen Bodensee im Jahr 1963 als Höhepunkt der „Seegfrörne“. Damals, am 22. Februar vor 60 Jahren, drücken Ungezählte die Auslöser ihrer Kameras – die Ufer sind schwarz vor Menschen.

Im Mittelpunkt: Guido Hess und Walter Speck. Die beiden Schweizer haben die Aufgabe, die geschnitzte Büste des Evangelisten Johannes auf einem Tragegestell „heimzuholen“, wie sie sagen – von Hagnau am Nordufer des Bodensees quer über den See ins gegenüberliegende, acht Kilometer entfernte Schweizer Münsterlingen.

133 Jahre zuvor hatte der Heilige seine bis dahin letzte Reise über den See zurückgelegt. Die Entscheidung zum Aufbruch fällt den Schweizern nicht leicht. Würde das Eis die vielen Menschen tragen?

Prozession nach Deutschland

Georg Stärr aus Friedrichshafen-Fischbach verwirklicht den von Dichter Gustav Schwab im „Der Reiter und der Bodensee“ beschriebenen Ritt über den Bodensee, führt mit Haflinger „Monika“ die Prozession nach Deutschland an.

Und so ziehen die Menschen getreu einem Brauch von 1573 los – damals wurde der Heilige Johannes zum ersten Mal über den See getragen. Warum genau, dazu gibt es nur Erklärungsversuche. Die Münsterlinger und die Hagnauer hätten im Seegfrörnenjahr 1573 beschlossen, Ihre Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, heißt es. So trugen die Eidgenossen ihre Johannesbüste über den See.

Hier sehen Sie eine Multimedia-Reportage zur Seegfrörne:



Abends, als die Münsterlinger wieder zurückwollten, hätten sie bemerkt, dass sie ihren Johannes vergessen hätten. Also beschlossen sie, die Büste bei der nächsten Seegfrörne wieder in die Schweiz zu bringen. Lange mussten sie auf ihren Heiligen warten.

Erst 1684 kehrt die Büste zurück - und wird fortan bei jeder Seegfrörne über das Eis getragen. Eine andere Erklärung lautet Guido Hess zufolge: „Den Menschen im süddeutschen Raum ging es um 1573 furchtbar schlecht. Die Ordensfrauen des damaligen Klosters, von denen einige aus dem süddeutschen Raum stammten, wollten den Menschen über dem See Hoffnung bringen und haben deshalb bei der Seegfrörne 1573 die Büste des Lieblingsjüngers von Jesus als Geschenk nach Hagnau geschickt“, so der Schweizer.

Letzte Seegfrörne 1963

Vorboten gibt es schon ab November: lang anhaltenden Frost und sehr geringe Luftbewegungen. Mitte Januar 1963 sind die obersten 50 Meter des Obersees deutlich kälter als in anderen Jahren. Laut Wissenschaftlern ist seine Wärmemenge um mindestens 40 Billionen Kilokalorien geringer als sonst. Die Folge: Der See friert von den Rändern aus zu.

„Das deutsche Fernsehen wittert bereits den ersten Tagesschau-Beitrag und entsendet ein Team an den Untersee, um den Betrieb auf dem Eis dokumentarisch festzuhalten“, heißt es im „Tagebuch vom großen Eis“ am 20. Januar. „Zu früh kommt die Meldung, dass der gesamte Bodensee zugefroren ist. Zunächst ist es lediglich der Untersee.“

Doch das Eis macht sich auch auf dem Obersee breit. Am 5. Februar wird dort der Schiffsverkehr eingestellt. Im Bregenzer Hafen müssen zwei Tage später Schiffe aus dem Eis herausgesägt werden.


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Am selben Tag begrüßt Bürgermeister Dr. Tizian drei junge Burschen, die von Wasserburg auf Schlittschuhen über den See nach Bregenz gefahren waren, serviert ihnen eine Brotzeit. Die Fähre zwischen Meersburg und Konstanz pendelt nur noch, damit die Schneise nicht zufriert – teilweise ist sie leer, weil die Menschen lieber auf dem Eis unterwegs sind.

Am 6. Februar legt sie ihre vorläufig letzte Fahrt zurück – dann schließt sich die Eisdecke. Jetzt ist der See auch an seiner breitesten Stelle, über 14 Kilometer zwischen Friedrichshafen und Romanshorn in der Schweiz, begehbar. 150 Millionen Tonnen, schätzen Fachleute, wiegt die Eismasse, die Deutschland, Österreich und die Schweiz verbindet.

Seegfrörne lockt die Massen an

Immer mehr Menschen packt das Seegfrörne-„Fieber“. Von weit reisen sie in teils völlig überfüllten Zügen an den Bodensee, wo sich ein großer Teil des Lebens vom Festland auf das bis zu 30 Zentimeter dicke Eis verlagert. Tausende überqueren wie Julius Pietruske den See zu Fuß, von Langenargen ins schweizerische Arbon schafft er es in 25 Minuten.

Andere nehmen den Schlitten, das Fahrrad oder sogar das Auto. Für die Überquerung gibt es Urkunden und „Eiswanderbescheinigungen“.

„Auch meine älteren Töchter, damals fünf und drei Jahre alt, können sich noch gut an eine Autorunde mit unserem ,Käfer‘ auf dem Eis vor der Insel Reichenau und eine See-Überquerung zu Fuß zu den Schwiegereltern in Konstanz erinnern.

Mit ausgeliehenem Schlitten von Meersburg auf der Fährestraße nach Staad, bei strahlendem Sonnenschein, Bratwurst-Ständen mitten auf dem See und Ordensschwestern mit wehendem Habit auf einer ,Schleifete‘ vor Staad“, erinnerte sich einmal Michael Schnieber, früher stellvertretender Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“.

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Manche campen auf dem Eis – ausgestattet mit Rheumadecken, Perlonschlafsäcken und Luftmatratzen. Auf dem Überlinger See feiern Tausende ein Volksfest. In Nonnenhorn wird am 7. Februar der traditionelle Schäfflertanz vor 2500 Menschen aufgeführt – glücklicherweise versetzen die synchronen Schritte der Tänzer das Eis nicht in Schwingungen, es hält stand.

Zwei Tage später bringen Altnauer Schülerinnen und Schüler ein seit 1830 aufbewahrtes Christus-Bild übers Eis nach Hagnau.

Selbst Mist wird über den See gekarrt

Rundflüge sind im Angebot – vor Nonnenhorn gib es einen offiziellen Start- und Landeplatz auf dem Eis. Und: Es werden Autorennen veranstaltet.

Am 5. März schiebt gar ein Bauer aus Arbon eine Schubkarre voller Mist über das Eis nach Langenargen. Sie ist als Dung für die Arboner Linde gedacht, die dort anlässlich der Seegfrörne gepflanzt werden soll. Der damalige Langenargener Bürgermeister schickt dafür deutsche Erde nach Arbon für die Langenargener Eiche, die in der Eidgenossenschaft eine neue Heimat finden soll.

Soldaten im Vogelfütter-Dienst

Den Tieren macht die Seegfrörne zu schaffen: Sie frieren und hungern. Am Untersee steigt ein kleines Sportflugzeug mit Rindertalg und anderem Futter auf, um den Vögeln zu helfen. Im Schweizer Rorschach wird die Aktion „Futterloch im Bodensee-Eis“ ins Leben gerufen: Mit Hilfe eines Kompressors sollen Teile des Sees offengehalten werden.

Soldaten des Luftwaffenbataillons in Lindau werden angewiesen, die Vögel zu füttern. Am Lindauer Pulverturm bricht am 6. Februar eine Frau beim Vogelfüttern bis zum Hals ins Eis ein. Sie hat Glück und wird gerettet – wie schon am 16. Januar ein 13-Jähriger.

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Er gerät in Lebensgefahr, als er auf einer gelösten Eisscholle in den See abgetrieben wird. Seine Hilferufe werden von der Lindauer Wasserschutzpolizei gehört.

Tote der Eisgefrörne

Die Eisgfrörne fordert aber auch Tote. Am 10. Februar kommt ein 68-jähriger Mann aus Wasserburg auf dem Eis vom Weg ab, bricht mit seinem Fahrrad ein und ertrinkt.

Tragisch ist auch, was am 22. Februar vor Friedrichshafen-Manzell passiert: Ein 13-Jähriger und ein 15-Jähriger werden auf einer mehrere Hundert Meter langen Scholle in den See hinausgetrieben. Am nächsten Morgen werden die Buben erfroren 600 bis 800 Meter vor dem Schweizer Ufer bei Güttingen gefunden.

Ab dem 14. Februar gibt es alpine Freuden auf dem Bodensee: Bis zu sechs Meter hoch sind die Eisberge, die sich vor Friedrichshafen-Fischbach und -Manzell auftürmen. Sie entstehen durch das aufgerissene und vom Westwind zusammengeschobene Eis.

Manche haben den Ehrgeiz, diese bizarren Berge zu besteigen. Zeitzeugen berichten von gewaltigem Krach in den Nächten, als sich das Eis übereinander geschoben hat.

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Am 9. März versuchen Fährschiffe der Stadt Konstanz und Bundesbahnschiffe, von Staad nach Konstanz eine Fahrrinne aufzubrechen.

Sie scheitern zunächst am dicken Eis, erst am 15. März gelingt es dann doch. 170.000 Deutsche Mark Einnahmeausfall beklagt die Stadt Konstanz aufgrund der zeitweilig stillgelegten Fährverbindung.

Seegfrörne endet erst im April – Wiederholung unwahrscheinlich

Am 1. April wird der Schiffsverkehr im Überlinger See wieder aufgenommen, am 7. April auf dem Obersee. Damit ist die jüngste Seegfrörne Geschichte.

Dass es in absehbarer Zeit wieder eine gibt, halten Wissenschaftler für sehr unwahrscheinlich. Nach den Worten von Bernd Wahl vom Institut für Seenforschung in Langenargen ist eine Seegfrörne „ein sehr seltenes Extremereignis“. Er sagt aber auch: „Aus der statistischen Betrachtung heraus könnte ein solches Ereignis grundsätzlich jederzeit wieder vorkommen.“ Auch die Klimaforschung zeige, dass die globalen Prozesse, die die Winter am Bodensee bestimmen, durchaus komplex seien.

Das Klima in Mitteleuropa sei aufgrund des Wärmetransportes durch den Golfstrom relativ mild. „Dieser Wärmestrom scheint sich jedoch aufgrund der klimatischen Veränderungen abzuschwächen.

Eine Abschwächung des Golfstroms könnte wiederum zu einer Abkühlung des Klimas in Mitteleuropa beitragen. Dies würde bedeuten, dass wir am Bodensee wieder mit kälteren Winterverhältnissen rechnen müssten und dann auch eine Seegfrörne wieder wahrscheinlicher würde“, so Wahl.

Die Eisprozession von 1963

Zurück zu Guido Hess, einem der Träger der Johannes-Büste: Die Gläubigen beten zum Schutzengel, das Vaterunser und das „Gegrüßet seist du Maria“. Sie überqueren eine Eisspalte von einem halben Meter, über die jemand vorsorglich Bretter gelegt hat. Als der hintere Träger mitten auf dem See stürzt, reagiert der Landwirt blitzschnell.

So knallt nicht die ganze Büste, sondern „nur“ die linke hintere Kante aufs Eis. „Wie ein Präsident“ habe er sich gefühlt, als er mit dem Heiligen durch die Menschenmenge geschritten sei, wird Guido Hess später sagen. Trotzdem ist der Eidgenosse erleichtert, als er mit der Büste wieder an Land ist und heimatlichen Boden unter den Füßen hat.

Über die Eisprozession von 1963 sagte er 2013: „Während des Krieges bauten wir Bunker zur Abwehr des nazistischen Terrors. Und plötzlich konnten wir einander über den gefrorenen See wieder begegnen. Wir schauten einander wieder in die Augen. Wir einfache Leute bewirteten einander und redeten und tranken zusammen. Für diesen Frieden wollten wir damals danken und um seine Festigung bitten. Aber auch heute haben wir genügend Anlass, um für den Frieden zu beten.“

Guido Hess hat „seinem“ Johannes immer wieder einen Besuch abgestattet. Vor drei Jahren ist er gestorben. Die Büste des Heiligen wird derweil in einem Tresor in der Kirche in Münsterlingen aufbewahrt – bis sie bei der nächsten Seegfrörne von den Hagnauern „heimgeholt“ wird.


33 Mal war laut Chronisten der See zwischen den beiden Ufern vollständig von Eis bedeckt.

  • 875 wird die erste Seegfrörne erwähnt. Die nächste 20 Jahre später: 895
  • 1074, 1076
  • 1108
  • 1217, 1227, 1277
  • 1323, 1325, 1378, 1379, 1383
  • 1409, 1431, 1435, 1460, 1465, 1470, 1479
  • 1512, 1553, 1560, 1564, 1565, 1571, 1573
  • 1684, 1695
  • 1788
  • 1830, 1880
  • Zuletzt war dies 1963 der Fall.