Forschung im Südwesten

Nirgendwo mehr Tierversuche als in Bayern und Baden–Württemberg

Ravensburg / Lesedauer: 5 min

Mehr als die Hälfte der für die Wissenschaft gezüchteten Tiere werden überhaupt nicht in Tierversuchen eingesetzt — und beinahe ausnahmslos getötet. Woran das liegt.
Veröffentlicht:20.03.2023, 17:00

Von:
  • Author ImageYannick Rehfuss
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Was wiegt mehr: Der wissenschaftliche Fortschritt oder das Wohl der Tiere? Beim Thema Tierversuche stoßen Meinungen und Interessen aufeinander. Im Südwesten ist die Zahl der für wissenschaftliche Zwecke eingesetzten Tiere zum dritten Mal in Folge zurückgegangen.

Waren es 2018 noch 533.685 Versuchstiere in Baden–Württemberg, wurden 2021 nur noch 393.760 Tiere in Versuchen eingesetzt. Damit ist Baden–Württemberg aber weiterhin das Bundesland mit den zweitmeisten verwendeten Tieren. Nur in Bayern wurden mehr eingesetzt, nämlich 430.055 Tiere.

Aus welchen Gründen werden Tierversuche überhaupt durchgeführt?

In der Zulassung von Medikamenten sind Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben. Auch in der Krebsforschung kommt man nicht ganz ohne Tierversuche aus. „Unsere Wissenschaftler nutzen alle verfügbaren Methoden und Modellsysteme“, betont eine Sprecherin des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg.

Krebs sei aber eine komplexe Krankheit und diese Komplexität lasse sich nur in einem lebenden Organismus abbilden, „sodass wir in der Krebsforschung nicht auf Untersuchungen an Tieren verzichten können.“ Überhaupt werden die meisten Tiere in der Grundlagenforschung eingesetzt. 2021 waren das 56 Prozent.

Warum finden in Baden–Württemberg und Bayern so viele Tierversuche statt?

Im Süden Deutschlands gibt es viele Hochschulen und Universitäten, an denen Tierversuche vorgenommen werden. Beispielsweise setzte die Universität Ulm 2021 rund 31.700 Tiere in der biomedizinischen Forschung ein, etwa in der Virologie und Traumaforschung. Aktuell untersuchen Forscherinnen und Forscher die Embryonen–schädigende Wirkung bestimmter Herbizide wie Glyphosat.

Auch private Forschungseinrichtungen führen Tierversuche durch. Das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim, das auch einen Unternehmenssitz in Biberach hat, verweist auf Anfrage auf die gesetzliche Notwendigkeit von Tierversuchen bei der Erprobung von Wirkstoffen.

Eine Sprecherin betont: „Es ist unsere moralische und ethische Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Tiere, die uns bei der Entwicklung und Herstellung bahnbrechender Arzneimittel helfen, gut behandelt und gepflegt werden.“

Dass die beiden Bundesländer den Ländervergleich anführen, ist auch ihrer Größe geschuldet. Setzt man die Zahl der Versuchstiere ins Verhältnis zur Bevölkerungsgröße der Bundesländer, ist Baden–Württemberg Vierter, Bayern lediglich Sechster und nur knapp über dem bundesdeutschen Durchschnitt.

Welche Auflagen gibt es?

In Deutschland und der EU gelten strenge Auflagen für Tierversuche. Jeder Versuch wird von einer unabhängigen Kommission aus Wissenschaftsvertretern und Tierschützern auf das seit 2013 verbindliche 3R–Prinzip geprüft. Danach dürfen Tierversuche nur dann stattfinden, wenn es keine sinnvolle tierfreie Alternative dazu gibt (Replacement), nur so viele Tiere wie zwingend erforderlich eingesetzt werden (Reduction) und die Belastung für die Tiere so gering wie möglich gehalten wird (Refinement). Das Land Baden–Württemberg fördert die Suche nach tierfreien Forschungsansätzen.

Wie transparent sind die Tierversuche?

Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) führt eine öffentliche Datenbank mit allen Tierversuchen, die in Deutschland durchgeführt werden. „Ich wüsste keinen Bereich, in dem so eine Art von Transparenz gegeben ist. Deutschland ist da sehr vorbildlich“, sagt Roman Stilling, Neurowissenschaftler und Experte der Initiative „Tierversuche verstehen“.

Darin haben sich forschende Universitäten und Wissenschaftsorganisationen zusammengeschlossen, um aus ihrer Sicht über das Thema zu informieren. Die Projektbeschreibungen der Hochschulen zu Tierversuchen zeigen auf, in welcher Form und zu welchem Zweck Tierversuche stattfinden. Aus Datenschutzgründen sind die Angaben allerdings anonymisiert.

Welche Kritik gibt es an den Tierversuchen?

„Das Hauptproblem von Tierversuchen liegt in der fehlenden Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen“, meint Gaby Neumann von der Organisation Ärzte gegen Tierversuche. Über 90 Prozent der Medikamente, die im gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuch wirksam und sicher waren, würden anschließend im Test an Menschen scheitern.

Diese Versuche dienen weder einem konkreten noch besitzen sie einen absehbaren Nutzen für den Menschen.

Tilo Weber, Deutscher Tierschutzbund

Dabei gebe es Alternativen, die effektiver, schneller und kostengünstiger seien. Neumann führt als Beispiel Computerprogramme an, die mit menschlichen Daten gefüttert, Voraussagen über Wirksamkeit und Verträglichkeit von neuen Medikamenten treffen könnten.

Tilo Weber vom Deutschen Tierschutzbund hingegen kritisiert die hohe Zahl der Tiere, die in der Grundlagenforschung eingesetzt werden. „Diese Versuche dienen weder einem konkreten noch besitzen sie einen absehbaren Nutzen für den Menschen“, sagt der Referent für Alternativmethoden zu Tierversuchen.

Was hat es mit den nicht verwendeten Tieren auf sich?

Für das Jahr 2021 hat das BfR zum ersten Mal Zahlen dazu herausgeben, wie viele Tiere zwar für wissenschaftliche Zwecke gezüchtet, aber letztlich nicht verwendet und getötet wurden. In Baden–Württemberg waren das 462.824 Tiere — und damit mehr als die Hälfte aller gezüchteten Tiere (836.819). Auch in Bayern wurden mehr Tiere aussortiert (461.225) als verwendet (420.000).

Diese Tiere, meist Mäuse, werden aus einer Vielzahl von Gründen nicht eingesetzt. Beispielsweise, weil sie für den Versuch zu alt sind oder das falsche Geschlecht haben. Zukünftig könne man zwar durch bessere Planung und andere Verwendungszwecke die Zahl dieser Tiere senken, „ganz ohne wird es aber nicht gehen“, ist sich Stilling sicher.