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Umstrittene Abi-Lektüre

,Tauben im Gras’ - Jetzt reden zwei Kommissionsmitglieder

Baden-Württemberg / Lesedauer: 5 min

Warum wird ein Buch mit nachweislich rassistischem Inhalt als Abi–Lektüre an beruflichen Gymnasien zugelassen. Zwei Mitglieder der zuständigen Kommission klären auf.
Veröffentlicht:13.04.2023, 17:00

Von:
  • Kara Ballarin
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Seit Wochen gibt es Kritik an „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen. Für das Deutsch–Abitur an beruflichen Gymnasien in Baden–Württemberg ist die Lektüre Pflicht. Eine Lehrerin aus Ulm hatte sich geweigert, das Buch zu behandeln, weil darin hundertfach das N–Wort vorkommt, das für Menschen mit dunkler Hautfarbe eine schwere Beleidigung ist.

Dennoch hält das Land bis auf Weiteres an dem Buch fest, hatte Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) jüngst erklärt. Die beiden Lehrer Frederik Rucker aus Nordbaden und Thorsten Barczek aus der Region Stuttgart (Anm. d. Red.: beide Namen geändert) gehörten der zehnköpfigen Kommission aus Lehrkräften und Mitarbeitern der Kultusverwaltung an, die das Buch auswählte. Wie es dazu kam, erklären sie im Interview.

Sie möchten anonym bleiben, für dieses Interview haben wir Ihre Namen geändert. Liegt das an der hitzigen Diskussion um „Tauben in Gras“?

Barczek: Auch. Vor allem geht es aber um den Schutz vor Einflussnahme und zur Sicherheit des Abiturs. Wir gehören beide auch der Kommission an, die Abituraufgaben erstellt.

Rucker: Unsere Schülerinnen und Schüler sollten nicht wissen, dass wir an den Prüfungsaufgaben mitgearbeitet haben. Es geht hier auch um den Schutz vor Hacker–Angriffen auf unsere Computer.

Koeppens Buch hat die Frage aufgeworfen, wie divers die Kommission besetzt ist. Wie wurden Sie Mitglieder und sind Perspektiven jenseits der Mehrheitsgesellschaft ausreichend vertreten?

Barczek: Der Vorsitzende der Lektürekommission hat uns gefragt, ob wir uns beteiligen. Der Gruppe gehören ebenso viele Frauen wie Männer zwischen 35 und 60 Jahren an. Wir kommen aus allen Landesteilen und halten fast alle täglich Unterricht.

Eine Kollegin hat zwei nicht–deutsche Eltern und einen Mann, der nicht weiß ist. Sie findet, das Buch biete doch gerade die Gelegenheit, Rassismus zu thematisieren. Ich habe auch selbst eine Migrationsgeschichte. Aber es macht grundsätzlich immer Sinn, neu auf die Zusammensetzung solcher Kommissionen zu blicken.

Wie hat die Kommission ihre Favoriten ausgewählt?

Rucker: Ende 2019 haben wir begonnen und dem Kultusministerium Anfang 2021 unseren Vorschlag unterbreitet. Am Anfang bringt jeder Ideen ein, das Lesen hat allein ein halbes Jahr gedauert. Unser Auftrag war, zwei Bücher zu finden, die sich zu verschiedenen Aspekten gut vergleichen lassen.

Wir müssen ja Prüfungsfragen generieren, die in der Regel vier, fünf Jahre tragen. Klar war: Wir wollten nicht nur Goethe, Schiller und Kleist, sondern auch Gegenwartsliteratur, unbedingt auch von einer Frau geschrieben. Gerne etwas, das noch nicht zum Lektürekanon gehört.

Barczek: Vorgegeben ist, dass die Lektüre anspruchsvoll sein muss und in deutscher Sprache geschrieben wurde. Der Rest passiert im Gespräch. Nach den Leserunden gab es viele Diskussionen.

Wir haben bewertet, ob es Materialien zu den Werken gibt und andere mediale Umsetzungen wie Filme. So reduziert sich das immer weiter wie bei einem Fußballturnier. Am Ende blieben Koeppens „Tauben im Gras“ und Katharina Hackers „Die Habenichtse“.

Warum dieses Paar? Und wer hat wie entschieden?

Rucker: Wir haben nicht abgestimmt, jeder aus der Kommission hat die Entscheidung mitgetragen. Wir haben ein kurzes Gutachten verfasst und dem Kultusministerium unsere Empfehlung vorgelegt. Die Lektüren sind näher am Leben der Schülerinnen und Schüler als ein alter Mann, der wie bei Goethes „Faust“ oder Frischs „Homo Faber“ etwas mit einer jungen Frau hat. Es gibt viele lohnende Vergleichsmöglichkeiten der Bücher. Wenngleich das nicht so sehr den Themenbereich Rassismus betrifft.

Barczek: Unser Thema war vielmehr „eine Welt im Umbruch“: Beziehungsprobleme, Scheitern, Projektionen in die Zukunft, Gewalt. Wie gehen Menschen in solchen Situationen mit anderen Menschen um? Das war unser Grund für den Doppelpack Koeppen und Hacker.

Gab es einen Plan B?

Barczek: Nein. Wäre das Kultusministerium unzufrieden gewesen, hätten wir den erst erarbeiten müssen.

Hatten Sie den Aufruhr um „Tauben im Gras“ erwartet?

Barczek: Nicht in dieser Vehemenz, und erst recht nicht zu diesem Zeitpunkt. Die Lektüre ist ja schon seit zwei Jahren bekannt. Multiplikatoren wurden ab Oktober 2021 geschult. Seit Frühjahr 2022 haben über 600 Lehrkräfte an Schulungen teilgenommen.

Rucker: In diesen Fortbildungen wird sehr auf den Aspekt Rassismus hingewiesen, gleich zu Beginn der Präsentation zu „Tauben im Gras“. Auch im Reader, den alle Teilnehmer bekommen, steht im Vorwort, dass das N–Wort vorkommt und die Lehrkräfte sich vor dem Unterricht mit der Frage nach Rassismus in unserer Gesellschaft beschäftigen sollen.

Diese Frage sollen sie vor der Lektüre im Unterricht behandeln und mit ihrer Klasse klären, wie mit dem N–Wort umgegangen wird. Es soll nicht laut vorgelesen und auch sonst nicht genutzt werden. In den Fortbildungen selbst gab es eher Diskussionen um Hackers Buch, weil dort ein Kindesmissbrauch angedeutet wird. Koeppen wurde hingegen nicht problematisiert.

Sollte das Buch als Pflichtlektüre nun schnell ersetzt werden? Kultusministerin Schopper wies das zurück und Ministerpräsident Winfried Kretschmann betont, man müsse über den Umgang mit historischen Texten generell diskutieren.

Barczek: Das lässt sich schon alleine organisatorisch nicht so schnell umsetzen. Meine persönliche Meinung: „Tauben im Gras“ sollte nicht ersetzt werden. Es gibt ja immer sehr viele Themen in anderen literarischen Werken, die bei einer bestimmten Lesergruppe negative Gefühle auslösen können — etwa Suizid, Abtreibung, Missbrauch. Aber alles Kompromittierende außen vor zu lassen, hieße den notwendigen Diskurs zu unterbinden. Das kann nicht die Lösung sein.

Rucker: Texte müssen immer in ihren historischen Kontext eingebettet werden. Um meinen Schülerinnen und Schülern die Ideologie im Dritten Reich begreiflich zu machen, muss ich sie auch mit problematischen Texten konfrontieren. Was wir alle nicht können, ist die Perspektive von Betroffenen einnehmen.

So kann ich nicht nachvollziehen, wie sich jemand mit dunkler Hautfarbe fühlt, der Koeppen liest. Eine sachliche Diskussion darüber ist notwendig und zielführend, aber sicher auch schmerzhaft. Ich würde mir wünschen, dass es zudem mehr Vertrauen in die Lehrerschaft zum Umgang mit dem Buch gäbe.