Sonderkontingent
Jesidinnen: ein neues Leben nach dem IS-Terror
Baden-Württemberg / Lesedauer: 7 min

Am 3. August 2014 endete Rojins unbeschwerte Kindheit. 13 Jahre alt war das jesidische Mädchen damals, das eigentlich anders heißt. Kämpfer des Islamischen Staats (IS) drangen in ihr Dorf Kojo und viele weitere Orte im Nordirak ein. Für Rojin begann eine Zeit unvorstellbarer Angst und Gewalt. Heute sitzt die 15-Jährige mit den bernsteinfarbenen Augen in sich gesunken auf einem Stuhl in einer Unterkunft im Landkreis Esslingen für rund 100 Frauen und Kinder, die ähnliche Gräuel erlebt haben wie sie. Und es fällt ihr schwer zu erzählen, was sie durchleben musste.
Rojin gehört zu einer Gruppe von 1000 Menschen, die über ein „Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ aus dortigen Flüchtlingslagern nach Baden-Württemberg geholt wurden. Es sind vornehmlich Menschen, die zur Glaubensgemeinschaft der Jesiden gehören. Auch 50 Christen sind darunter. Seit Ende Januar ist diese Hilfssaktion abgeschlossen, die ihren Ursprung im Sommer 2014 hat. Damals blickte die Welt auf die von Jesiden bewohnte Region im Nordirak, in der die Terrormiliz IS gnadenlos wütete. Die Medien berichteten von einem Genozid an den Jesiden.
Verkauft, versklavt, vergewaltigt
Der IS brachte zahlreiche Männer um – bis heute gibt es Meldungen über Funde von Massengräbern. Die Terroristen verschleppten Frauen und Kinder. Ältere Frauen wurden vielfach zu Haussklavinnen gemacht, Mädchen und junge Frauen wurden verkauft, oft mehrere Male, und vergewaltigt. Buben wurden zunächst in Koranschulen gesteckt und dann als Kindersoldaten abgerichtet. Viele, die nicht zum Islam konvertieren wollten, wurden getötet.
Die Nachrichten aus dem Sommer 2014 schockierten auch die Menschen in Baden-Württemberg. Holger Geissler, Sprecher des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, hat an vielen Stellen um Hilfe gebeten. Erhört wurde er nur in Baden-Württemberg. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) war von den Berichten so betroffen, dass er dieses Thema auf die Tagesordnung des ersten Flüchtlingsgipfels im Südwesten im Oktober 2014 setzte. „Da haben alle Fraktionen gesagt: Da muss man doch was machen, den Frauen und Kindern helfen“, sagt Michael Blume , Referatsleiter für Religions- und Integrationsangelegenheiten im Staatsministerium.
Während die Vorbereitungen für das Projekt in Baden-Württemberg anliefen, war Rojin noch in den Händen des IS, die sie Daesch nennt. Die Terroristen mögen diese Abkürzung der arabischen Bezeichnung für „Islamischer Staat“ nicht, weil der Begriff negativ besetzt ist. Bevor Rojin verschleppt wurde, lebte sie mit ihrem Vater, ihrer Mutter, der zweiten Frau ihres Vaters und insgesamt sechs Brüdern und fünf Schwestern in einem Haus in Kojo. Die Schülerin war am 3. August 2014 gerade bei ihrer Cousine zu Besuch, die drei Kilometer von ihrem Zuhause entfernt wohnte. „Plötzlich kamen die Daesch in Jeeps“, sagt Rojin in der kurdischen Sprache Kurmandschi. Die 28-jährige Jurastudentin Samira Durmus übersetzt. Sie ist selbst Jesidin und kam mit ihren Eltern im Alter von drei Jahren aus der Osttürkei nach Deutschland.
Lesen, beten, konvertieren
Die Männer wurden von den Frauen und Kindern getrennt, erinnert sich Rojin. Was mit den Männern, etwa ihrem Onkel, passiert ist, weiß sie bis heute nicht. Die Frauen und Kinder brachten die IS-Terroristen in ein leeres Gefängnis nach Mossul. Mit ihren beiden 16- und 17-jährigen Cousinen und etwa 1000 anderen Gefangenen blieb Rojin hier eine Woche lang. Die Jesidinnen sollten zum Islam konvertieren, den Koran lesen, beten. Die 13-Jährige gab vor, erst elf Jahre alt zu sein. Dadurch, so hoffte sie, würde sie nicht verkauft werden. Als die Daesch genau das mit einer ihrer Cousinen tun wollten, hielt Rojin sie mit aller Kraft fest und erntete dafür Prügel. Doch die Cousine blieb. Auf der Flucht vor den Angriffen der kurdischen Streitkräfte der Peschmerga verschleppten die Daesch ihre Gefangenen von einem Ort zum nächsten.
Nach Monaten in den Händen der Daesch wurde Rojin mit elf weiteren Mädchen an einen muslimischen Mann als Sklavin verkauft. „Dort sind schlimme Sachen passiert“, sagt Rojin mit gesenktem Blick. Ist sie vergewaltigt worden? Rojin zögert, zupft an ihrem Armbändchen. Dann, nach einer Weile, schüttelt sie kurz den Kopf.
Gemeinsam mit ihren beiden Cousinen und zwei weiteren Mädchen gelang die Flucht. Nachts um ein Uhr schlafen die Daesch, wussten die Mädchen. Sie rannten los und liefen bis neun Uhr morgens, bis sie die Peschmerga nahe der Stadt Sindschar erreichten. In einem Flüchtlingslager nahe der Stadt Zaxo in der baden-württembergischen Partnerprovinz Dohuk traf sie Teile ihrer Familie wieder – auch ihre Mutter. Mit ihr, den Cousinen, ihrer Tante, einem Bruder und einer Schwester kam sie über das Sonderkontingent nach Baden-Württemberg.
In Dohuk hatte Michael Blume und sein Team ein Büro eingerichtet. Hier entschieden sie, wer nach Deutschland kommen darf. „Die Auswahl war schwierig“, sagt Jan Kizilhan . Der Psychologe, der den Studiengang Soziale Arbeit mit psychisch Kranken an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen leitet, ist international anerkannter Traumatologe. Für seine Arbeit, unter anderem in diesem Projekt, hat ihn Anne Brasseur, Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, jüngst in Genf mit dem Frauenrechtspreis 2016 ausgezeichnet. „Mein Job war es, die Frauen einzeln zu untersuchen“, sagt er.
Um ins Sonderkontingent aufgenommen zu werden, mussten die Frauen in IS-Gefangenschaft gewesen sein und dabei nachweislich körperliche oder psychische Schäden genommen haben, die in Deutschland Aussicht auf Heilung haben. Um eine Vorauswahl zu treffen, arbeiteten Blume und Kizilhan mit der dortigen Regierung, den Lagerverwaltungen und Nichtregierungsorganisationen zusammen. „Großteil unseres Teams waren Frauen, weil Männer viele Dinge gar nicht machen konnten, allein schon Fingerabdrücke nehmen“, erklärt Blume. Die traumatisierten Frauen wollten von Männern nicht angefasst werden.
Ein Jahr lang waren die Deutschen immer wieder in Dohuk, bis das Sonderkontingent Ende Januar erschöpft war. 1000 Frauen und Kinder leben nun in 22 Einrichtungen in Baden-Württemberg. Sie haben ein Aufenthaltsrecht für zwei Jahre, mit der Möglichkeit, auch danach in Deutschland zu bleiben. Das Land hat 95 Millionen Euro für das Programm eingeplant.
Auch wenn das Sonderkontingent nun erschöpft ist, will Kizilhan weiter im Nordirak helfen. Noch rund 1200 traumatisierte Frauen und Kinder lebten dort in Flüchtlingscamps, 3500 weitere seien in IS-Gefangenschaft, 1500 Jungs seien Kindersoldaten. Auf seine Initiative startet das baden-württembergische Wissenschaftsministerium eine Therapeutenausbildung zur Behandlung traumatisierter Menschen vor Ort. In einer Kooperation zwischen Dualer Hochschule, der Uni Tübingen und der Universität Dohuk sollen ab Anfang kommendes Jahr 30Ärzte, Sozialarbeiter und Psychologen dort zu Psychotraumatologen und Psychotherapeuten ausgebildet werden.
Die Verarbeitung psychischer Schäden läuft in Baden-Württemberg schleppend. Keine der Frauen will bislang therapeutische Betreuung, erklärt Sozialarbeiterin Sabine Pereira, die Rojins Einrichtung im Kreis Esslingen leitet. Stattdessen drängten sie auf Arztbesuche. „Ihr Erlebtes äußert sich psychosomatisch.“ Mit dem westlichen Verständnis von psychischer Erkrankung und Therapie haben viele der Frauen Probleme. Auch Rojin spricht von körperlichen statt von seelischen Schmerzen. Sie sagt, dass ihr Herz wehtäte. Und: „Manchmal, wenn ich ganz viel nachdenke, habe ich Rückenschmerzen.“ Die seien fast weg, seitdem sie in Deutschland ist.
50 Prozent wollen bleiben
as sei typisch, erklärt der Traumatologe Kizilhan. „Jetzt kommt erst die große Herausforderung: die Frauen richtig und langfristig zu behandeln.“ Erst wenn die Frauen zur Ruhe gekommen seien, könne die Traumaverarbeitung beginnen. Dabei gelte: Je jünger die Patienten, desto besser die Therapieerfolge. Das sieht auch Sozialarbeiterin Pereira anhand ihrer Frauen. Etwa 20 Prozent würden sofort zurück in ihre Heimat gehen, wenn es die Lage dort zuließe. Je älter die Frauen, so Pereira, desto mehr seien sie gedanklich der Heimat verhaftet. Rund 50 Prozent wollten hingegen unbedingt in Deutschland bleiben. Die anderen 30Prozent seien unentschlossen.
Zu diesen 30 Prozent gehört auch Rojin. In Deutschland habe sie sich von Anfang an sicher gefühlt. Sie geht zur Schule, spielt gerne Fußball, beginnt, Freundschaften zu schließen. „Deutschland gefällt mir sehr, aber mein Herz ist noch nicht offen dafür“, sagt sie. Nicht, solange sie nicht weiß, was aus ihren verschollenen Familienmitgliedern wie ihrem Vater geworden ist. Und solange ihre Halbschwestern noch in IS-Gefangenschaft sind. „Ich vermisse das Leben von früher“, sagt die 15-Jährige. Das unbeschwerte Leben.