„Knallhartes Geschäft“
Immer mehr Landgasthöfe müssen schließen – Dieser Betrieb kämpft weiter
Baden-Württemberg / Lesedauer: 8 min

Dirk Grupe
Vor dem Gasthof zum Löwen in Prestenberg, östlich von Tettnang, steht an diesem sonnigen Septembermittag ein Bauschuttcontainer. Die Holztür zu den Schankräumen ist geschlossen, weit und breit lassen sich keine Gäste blicken, um die Idylle zwischen Hofanlage, Wiesen und Obstbäumen zu genießen.
Vorbeifahrende könnten fast meinen, die Traditionswirtschaft befinde sich in Abwicklung, hätte womöglich für immer geschlossen. Doch weit gefehlt, wie Inhaber Johannes Geßler erklärt, der gerade in einem Schuppen die alte Destillieranlage aus Kupfer einstellt.
Immer mehr Gaststätten im Land schließen
„Unsere Gaststätte ist gut besucht“, versichert der 32-Jährige. Zuletzt hatte es jedoch durch’s Dach in den Saal im Obergeschoss geregnet, Balken hingen durch, auch andere Gewerke waren in die Jahre gekommen, auf einem Hof, der erstmals 1515 Erwähnung findet. „Da stand ich vor der Entscheidung: Mache ich es neu oder lass ich es sein?“ Geßler entschied sich für die Investition ‐ und damit für die Zukunft des Löwen. In diesen Tagen alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Das Sterben der Gasthöfe und Dorfkneipen auf dem Land schreitet seit Jahren voran, nun spitzt sich die Lage offenbar zu. Das geht zumindest aus einer Auswertung des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg für den Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) hervor, wonach die Zahl der Kommunen im Südwesten, in denen es kaum oder gar keine Gastronomie gibt, in den letzten Jahren spürbar zugenommen hat.
Demnach hatten 2021 knapp 190 Städte und Gemeinden weniger als einen Profibetrieb je 1000 Einwohner, das sind fast zwei Drittel mehr als noch vor fünf Jahren. Viele dieser Gemeinden müssen inzwischen sogar ganz ohne Gastronomie auskommen, betroffen sind vor allem Kommunen von weniger als 3000 Einwohnern.
Umsatzsteuer gesenkt – Verlängerung noch offen
„Dass es im ländlichen Raum immer weniger geöffnete Gasthäuser gibt, ist ein ernstes Problem ‐ nicht nur für die Tourismuswirtschaft im Land, sondern auch für die Lebensqualität und das soziale Miteinander in Dörfern und kleinen Gemeinden“, warnt der Dehoga-Vorsitzende Fritz Engelhardt. Er appelliert daher an die Landesregierung, dem Gasthaus-Sterben offensiv zu begegnen, insbesondere durch eine dauerhafte Senkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie.
Johannes GeßlerGastronomie ist ein knallhartes Geschäft.
Zur Erinnerung: Die Umsatzsteuer auf Speisen wurde während der Corona-Pandemie von 19 auf 7 Prozent gesenkt und sollte ursprünglich Ende 2022 auslaufen. Wegen der Energiekrise wurde die Regelung jedoch bis Ende 2023 verlängert. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte neulich, dass der Bundestag bis Jahresende über eine weitere Verlängerung entscheiden wird, Ausgang noch offen.
„Gastronomie ist ein knallhartes Geschäft“, sagt Johannes Geßler, das war es früher schon und ist es heute allemal. „Da muss alles gut kalkuliert sein.“ Wie gut, lässt sich im Schuppen an der Destillieranlage erklären. Denn die Geßlers haben noch eigene Apfelbäume, den gepressten Saft füllt der Wirt in alte Eichenfässer ab, nach Zugabe von Hefe entsteht aus dem Zucker Alkohol und schließlich der beliebte Most des Hauses.
Damit aber nicht genug, das Obst hält noch mehr bereit: Äpfel ‐ Apfelsaft ‐ Most ‐ Schnaps ‐ Apfelkuchen ‐ Dampfnudeln mit Apfelfüllung ‐ Apfelmus ‐ Eingelegtes. „Du musst profitabel arbeiten und Kosten reduzieren“, sagt der Wirt, was aber nur über selbst Handanlegen gelingen kann. „Wenn ich einen Mini-Jobber einstelle, lohnt sich das nicht mehr.“
Führt die Gastwirtschaft parallel zum Hauptjob
Großartig erklären musste ihm das noch niemand, Geßler hat einen Bachelor in Betriebswirtschaft, arbeitet als Angestellter in einer 60-Prozent-Stelle im Einkauf. Die Gastwirtschaft öffnet er von Donnerstag bis Sonntagnachmittag, steht dann selbst in der Küche. Und kocht noch mit dem alten Holzofen aus Großmutters Zeiten.

„Das ist wie bei einer alten Dampflok, die zwar eine Weile braucht, dann aber über Stunden die gleiche Hitze abgibt.“ Ideal also für Braten und Schmorgerichte, für eine Soße, die gerne zwei, drei Tage durchziehen darf. „Wir machen ja keine Päcklesoße.“ Um den Aufwand an den Öffnungstagen gering zu halten, ist die Karte klein gehalten, es gibt eine Flädlesuppe, einen gemischten Salat, zum Nachtisch sind die Dampfnudeln der Klassiker. „Ein Gericht mit geringem Wareneinsatz.“

Eine einfach gehaltene Gastwirtschaft also, mit möglichst lückenloser Wertschöpfung, so wie es auf dem Land schon immer gang und gäbe war. Auch wenn sich die Landgasthöfe im Laufe der Jahre und Jahrzehnte erst allmählich entwickelt haben, wie Geßler-Senior erklärt. „Früher hatte niemand Geld, um in die Wirtschaft zu gehen“, erklärt Ludwig Geßler (80). Sein eigener Vater, Jahrgang 1904, wuchs mit Krieg, Hungersnot und Inflation auf. „Diese Zeiten haben ihn geprägt.“
Mit steigenden Gehältern boomten die Gaststätten
Einen Bauern, der Fleisch, Milch, Schnaps, Hopfen und Äpfel verkaufte, eben das, was die Leute zum Leben und Überleben brauchten. „Wenn ich in der Wirtschaft stand und dort schaffte, sagte er zu mir: ,Das bringt nichts, das ist nur Zeitverschwendung’.“ Im Stall und auf dem Feld war die Arbeitskraft damals wertvoller.

Das änderte sich erst nach dem Krieg und mit dem Wirtschaftsaufschwung, mit steigenden Gehältern, Reisen und Freizeitverhalten. Und in Prestenberg auch mit Talent und Können von Rita Geßler, Ludwigs Ehefrau. „Ich konnte gut kochen, in guter Qualität“, sagt die 69-Jährige. Den Gästen servierte sie Rostbraten, Rinderrouladen, Sauerbraten, gefüllten Saumagen, gegrillte Lende, Wildgerichte, Schupf- und Dampfnudeln.
Rita GeßlerDen Leuten hat es geschmeckt. Das spricht sich dann herum.
Allein der gute Ruf reicht aber nicht, betont sie. „Wir haben immer zusammen geschafft, mein Mann, meine Schwester, meine Nichte. Das ist so viel wert.“ Und heute nur noch selten vorzufinden.
Mit der Gaststätte schwindet der Zusammenhalt im Ort
Veränderungen spürt auch Walter Konstanzer vom Adler in Deggenhausen (Bodenseeekreis). Vor seiner Gaststätte stehen ebenfalls Bauschuttcontainer, die Eingangstür ist zu, dort allerdings für immer.
Anfang des Jahres hat der Adler nach 140 Jahren geschlossen. Ein Schock für Gemeinde und Gäste. „Wenn es aber keinen Nachfolger gibt und man auf die 70 zugeht, kommt dieser Schritt notgedrungen“, sagt Konstanzer, der sich über fehlende Einnahmen nie beklagen musste, „wir hatten ja immer unsere Stammtische“.
Nun treffen sich die Kumpel privat auf ein Bier, der Zusammenhalt im Ort schwindet allmählich trotzdem. Weil es an Treffpunkten fehlt für Geburtstage, nach Beerdigungen oder am Feierabend. „Das ist ja das Schlimme. Früher kannte jeder jeden, davon kann heute keine Rede mehr sein.“ Aufhalten lässt sich die Entwicklung aber wohl nicht, schon knapp ein Dutzend Gasstätten haben allein im Deggenhausertal aufgegeben, weitere würden folgen, ist sich Konstanzer sicher.
„Die Jungen wollen die Stunden nicht mehr schaffen für das Geld“, erklärt der erfahrene Wirt. „Und wenn jetzt die Mehrwertsteuer steigen sollte, gehen die Essenspreise hoch und noch mehr Gäste bleiben weg.“
Bund will Förderungen für Landwirtschaft kürzen
Außerdem drohen weitere Probleme, plant der Bund doch massive Kürzungen bei Fördertöpfen für Landwirtschaft und ländliche Gemeinden, die „Schwäbische Zeitung“ berichtete. Ohne Gelder aus dem Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum hätte aber auch Johannes Geßler kaum den Umbau des Löwen finanzieren können. So jedoch war er in der Lage, den Saal im Obergeschoss, in dem schon die Balken durchhingen, komplett neu gestalten zu lassen. Der Dachstuhl wurde ebenfalls ausgebaut, dort sollen eines Tages Wohnungen entstehen. Auch der Gastraum erhielt eine Auffrischung und wurde etwas erweitert. An „Baustellen“ wird es ihm aber auch künftig nicht fehlen. „Als Chef musst du heute von allem Ahnung haben“, sagt Geßler.
Von Buchhaltung über Vertrieb, Einkauf, Handwerker engagieren bis zur Personalführung. Auf dem Landgasthof kommen Wald, Obstbäume, Wiesen, Hackschnitzelanlage, Brennerei und vieles mehr dazu. Ganz abgesehen von den Arbeitszeiten bis in die Nacht hinein. „Gastronomie ist schwierig, weil du immer schaffst, wenn andere frei haben.“
Industrie wirbt Fachkräfte ab
Im Gegensatz dazu locken gut bezahlte Jobs in der Industrie mit flexiblen Arbeitszeiten und freien Wochenenden. „Es ist verständlich, dass die Leute sich den extremen Belastungen nicht aussetzen wollen, sich schwer tun im Umgang mit Lebensmitteln, Dunst und Gerüchen“, sagt Geßler. Es selbst empfindet seine Arbeit allerdings komplett anders.
„Ich bin schon als kleines Kind damit aufgewachsen“, sagt der 32-Jährige. „Für mich ist das ganz normal und angenehmer Stress. Mir macht das Spaß. Sonst könnte ich das auch gar nicht machen.“ Ohne die Leidenschaft für ein Leben, das sich nur noch wenige vorstellen können.
So fiel ihm letztlich die Entscheidung leicht, gleichermaßen in Tradition und Zukunft zu investieren. „Man macht das ja auch für die nächste und die übernächste Generation.“ Und für die Gäste. Sind die Arbeiten demnächst abgeschlossen, öffnet der Löwen wieder, wird der alte Küchenofen mit Holzscheiten gefüttert, damit die „Lok“ an Fahrt aufnimmt und noch für lange Zeit ihre Hitze abgibt.