Helfer
Hilflose Helfer
Baden-Württemberg / Lesedauer: 6 min

Eingeklemmt zwischen Rotlichtetablissments und der Mega-Baustelle für die neue Konzernzentrale des Autozulieferers ZF steht in Friedrichshafen am Bodensee ein Haus, das schon bessere Zeiten gesehen hat. „Deutsch-Kurdische-Gesellschaft“ steht daran. Es ist der Treff und Sammelpunkt von 140 kurdischen Familien aus der Region und die gut 1000 Mitglieder kennen derzeit nur ein Thema: Der Kampf um die syrische Grenzstadt Kobane, Symbol für den Kampf der Kurden gegen das Terrorregime des Islamischen Staats. Jetzt wollen die Kurden am Bodensee ihrem Volk helfen – nur wie? SZ-Reporter Hagen Schönherr hat mit Ihnen gesprochen.
„Wollen Sie das wirklich sehen?“, fragt die Frau in dem dunklen Gemeinschaftsraum mit den braunen, schmucklosen Tischen. An der Wand hängt ein Teppich mit einem Portrait von Jesus und Maria – Kurden sind eben ein Volk mit vielerlei Religion. In der Hand hält die Frau ein Smartphone, wie es Millionen gibt. Und auf dem Smartphone sind zahllose Fotos gespeichert, wie auf jedem ähnlichen Telefon weltweit. Nur die Fotos sind andere.
Blutrotes Leuchten
Zwei Männer liegen am Boden. Der eine ist schon tot. Dem anderen wird gerade ein Messer an die Kehle gehalten. Das Foto, wahrscheinlich irgendwo aufgenommen im kurdischen Teil von Syrien oder dem Irak, zeigt zwei Kämpfer, wahrscheinlich Kurden und ihre Mörder – sehr wahrscheinlich Männer des Islamischen Staats. Es ist eines von Dutzenden, die Hatice Cetin , die Frau am Tisch, auf ihrem Smartphone gespeichert hat. Täglich erreichen sie neue, ähnliche Dokumente des Schreckens aus ihrer Heimatregion, immer dann, wenn Cetin einschlägige Nachrichtenseiten kurdischer Medien oder kurdische Facebookgruppen durchforstet. „Hier, das waren eine schwangere Frau und ihr Baby“, sagt sie zu einem weiteren Schreckensbild, das schon in der Vorschau blutrot leuchtet. Sie ruft es dann doch nicht auf.
Hatice Cetin müsste sich diese Bilder nicht ansehen. Die Sprecherin der deutsch-kurdischen Gesellschaft in Friedrichshafen lebt seit 1981 in Deutschland. Über Bremen kam sie irgendwann an den Bodensee, hat hier Familie, Freunde und ein Auskommen gefunden. Doch seit ihr Volk zur Zielscheibe des IS-Terrors geworden ist und die Weltgemeinschaft nur zögerlich in den Konflikt eingreift, verfolgt sie jede Meldung aus dem Kriegsgebiet. Besonders die Zustände in den Flüchtlingslagern für kurdische Flüchtlinge in der Türkei haben es Cetin angetan. Bald wird es Winter und schon jetzt sollen Menschen in den Flüchtlingslagern erfroren sein. Hatice Cetin treibt dieses Schicksal ihres Volks Tränen in die Augen. Wie viele in Deutschland lebende Kurden will sie ihren Brüdern und Schwestern helfen: „Wir brauchen Geldspenden, Medikamente, Kleidung...“, sagt sie mit zittriger Stimme. Nur auf die Frage, wie sie das organisieren will, hat sie nicht so recht eine Antwort.
Mit der Hilfe von Kurden für Kurden ist es nämlich nicht so leicht. Ohne Unterstützung aus der Bevölkerung können die 140 kurdischen Familien am See nur wenig bewegen. Und der Zustand des Vereinsgebäudes der Kurden in Friedrichshafen spricht allein schön Bände über ihre Verankerung in der Gesellschaft. Bei einer Solidaritätskundgebung der Kurden am Bodensee in Friedrichshafen kamen in der 50000-Einwohner-Stadt Friedrichshafen Anfang Oktober kaum 200 Menschen zusammen. Eine ähnliche Veranstaltung zu Allerheiligen haben Cetins Kollegen gerade wieder, aus Angst vor zu wenig Teilnehmern, abgesagt. Jetzt fahren sie am 1. November mit Bussen zu einer Großveranstaltung nach Stuttgart. Der Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit lässt sich wohl fast schon als übliches Probleme einer Minderheit beschreiben. Schlimmer wiegt allerdings ein anderes Erbe, das auf den Kurden in Deutschland und auch am Bodensee lastet. „In den 90er-Jahren ist ein falsches Bild der Kurden in Deutschland entstanden“, sagt ein junger kurdischer Mann aus Friedrichshafen, 30 Jahre alt, der Hatice Cetin gegenübersitzt. „Wir haben aber auch Fehler gemacht.“ Der Mann, seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen, spricht auf die sogenannten Kurden-Proteste um das Jahr 1994 an, die damals die Republik in Atem hielten.
Hunderte Kurden blockierten zu dieser Zeit aus Protest gegen die Unterstützung der Bundesrepublik für den Nato-Partner Türkei Autobahnen. Einige übergossen sich mit Benzin und zündeten sich selbst an. Anhänger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK trugen den Bürgerkrieg zwischen Türken und Kurden auf diese Weise nach Deutschland, samt Brandanschlägen und gewalttätigen Ausschreitungen. Es war ein ebenso verzweifelter wie heftig kritisierter Aufschrei eines geschundenen Volks. Der Akzeptanz der kurdischen Bevölkerung in Deutschland hat es auf jeden Fall einen Bärendienst erwiesen.
„Heute sind wir schlauer“, sagt der junge Kurde in Friedrichshafen und man spürt, dass er hofft, dass die Kurden im Rest der Republik diese Ansicht hoffentlich teilen. Keine Selbstverbrennungen, keine Gewaltexzesse. Er will mit friedlichen Mitteln erreichen, dass die Welt vom Schicksal seines Volkes erfährt und dass auch am Bodensee eine Welle der Hilfsbereitschaft entsteht. Dabei schreckt er an Kritik an seiner eigenen Minderheit nicht zurück: „Wir hätten besser vorbereitet sein müssen. Die Hilfe stockt ein bisschen“, sagt er schließlich.
Als Annette Groth, Bundestagsabgeordnete der Linken im Wahlkreis Bodensee, neulich zu Besuch bei der Kurdengesellschaft war, setzte sich der junge Mann daher in die erste Reihe. Während die Abgeordnete, deren Partei traditionell den Kurden in Deutschland nahesteht, von einem Besuch in der türkisch-syrischen Grenzregion berichtete, bot er sich als Dolmetscher an, rief zu Spendenaktionen auf und sorgte bei der sonst eher zurückhaltenden Veranstaltung für eine lebhafte Debatte – auch über die Rolle mancher muslimischen Gemeinde in der Region: „Wer sich nicht offen von den IS distanziert, trägt deren Gesinnung mit sich.“ Jetzt will er helfen eine große Gala zu veranstalten, bei der Kurden aus der Region im November Spenden für Kurden in der Krisenregion sammeln sollen.
Er versucht Informations- und Spendenstände in der Region zu organisieren – und will sogar selbst in die Krisenregion fahren, um Sach- oder Geldspenden direkt dorthin zu bringen. „Stell dir vor die Bodenseeregion wird angegriffen. Erst fällt Überlingen. Dann Meersburg. Dann der nächste Ort.“
Für Sprecherin Hatice Cetin und die deutsch-kurdische Gesellschaft in Friedrichshafen könnten junge, engagierte und gut integrierte Männer wie dieser jetzt ein Glücksfall sein, um sich Gehör zu verschaffen. Denn dem Drang der hiesigen Kurden, in der Krisenregion zu helfen müssen jetzt konkrete Ideen folgen, wie auch die deutsche Bevölkerung für Unterstützung gewonnen werden kann. Hilfstransporte zu organisieren ist kein Kinderspiel. Spenden zu sammeln keine Fingerübung für ein Volk, dessen Namen meist in einem Atemzug mit der verbotenen PKK genannt wird.
Es dürfte ein langer Weg sein, bis sich neben Vertretern der Linken auch Abgeordnete anderer Parteien bei den Kurden am Bodensee blicken lassen.