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Gregor Gysi

Gregor Gysi: „Die Politik redet zu wenig mit den Menschen“

Berlin / Lesedauer: 11 min

Gregor Gysi: „Die Politik redet zu wenig mit den Menschen“
Veröffentlicht:17.01.2017, 17:37

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  • Schwäbische.de
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Gregor Gysi eilt über den hölzernen Korridor seiner Kanzlei. Der charismatische, kleingewachsene Anwalt und bekennende Sozialist führt weiter in die Küche. Früher war dort, wo Gysi mit zwei Partnern arbeitet, in der Fasanenstraße, gleich hinter dem Kurfürstendamm, eine großbürgerliche Wohnung. In der Küche steht ein gusseiserner Herd, der funktioniere noch mit Holz und Kohle, sagt Gysi mit jungenhafter Begeisterung. Und die Tür da hinten, das sei mal der Dienstboteneingang gewesen. Es wirkt, als freue er sich, dass die Verhältnisse sich so geändert haben, dass Dienstboteneingänge heute meist zugemauert sind.

Gregor Gysi eilt über den hölzernen Korridor seiner Kanzlei. Der charismatische, kleingewachsene Anwalt und bekennende Sozialist führt weiter in die Küche. Früher war dort, wo Gysi mit zwei Partnern arbeitet, in der Fasanenstraße, gleich hinter dem Kurfürstendamm, eine großbürgerliche Wohnung. In der Küche steht ein gusseiserner Herd, der funktioniere noch mit Holz und Kohle, sagt Gysi mit jungenhafter Begeisterung. Und die Tür da hinten, das sei mal der Dienstboteneingang gewesen. Es wirkt, als freue er sich, dass die Verhältnisse sich so geändert haben, dass Dienstboteneingänge heute meist zugemauert sind.

In Gysis Büro mit uralten Doppelfenstern, stehen einfache antike Möbel. Es ist kein Computer zu sehen, aber der 68-Jährige beantwortet E-Mails, indem er in das Spracherkennungsprogramm seines iPhones diktiert, alles mit korrekter Kommasetzung. Spricht Gysi über früher, über die DDR und den Fall der Mauer, ist er gelöst, ein Erzähler, der sich selbst ermahnt kürzere Antworten zu geben. Redet er über die Gegenwart, verschwindet das Lächeln. Christoph Plate hat ihn vor seiner Teilnahme am Bodensee Business Forum befragt.

Das Bodensee Business Forum findet am 3. Februar 2017 an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen statt. Spannende internationale und nationale Persönlichkeiten tauschen sich zu aktuellen Herausforderungen unserer Zeit aus - darunter Christian Wulf, Hamid Karzai, Franz Müntefering und Gregor Gysi.

Sie werden für Ihre rhetorischen Fähigkeiten ausgezeichnet, man lädt Sie gerne in Talkshows ein. Was schult Sprachmacht am besten: klassische Literatur, Debatten mit den Eltern oder der Beruf des Juristen?

Mein Vater war ein herausragender Rhetoriker. Schon als Kind musste mir etwas Besonderes einfallen, wenn es überhaupt eine Wirkung erzielen sollte. Mein Vater hatte einen Hang zur Selbstironie und den habe ich vollständig übernommen. Ich war immer gut in Fächern wie Deutsch, wenn es ums Reden und Erzählen ging. Außerdem war ich als Rechtsanwalt in der DDR sprachlich besonders gefordert. In aller Regel mussten wir in Strafverfahren gleich nach dem Staatsanwalt sprechen. Es gab immer einen Berufsrichter und zwei Schöffen. Wenn man alle drei erreichen wollte, musste man als Jurist so sprechen, dass einen auch die Schöffen verstehen.

Ihre Eltern haben das wiedervereinte Deutschland noch erlebt und die unerwartete Politikerkarriere ihres Sohnes Gregor. Haben die das kommentiert?

Oh ja. Meine Mutter war, was mich betraf, früher viel ehrgeiziger als mein Vater. Der nahm mich sachlich gelassen hin. Dann wurde ich nach der Wende Parteivorsitzender der SED . Meine Mutter rief an und sagte: ,Du trittst sofort wieder zurück.’

Da waren Sie Anfang 40…

... ich fragte, weshalb denn das, Mütterchen? ,Ja, weil sie dich sonst erschießen.’ Mein Vater war plötzlich wahnsinnig stolz auf mich. Er hätte es mir vielleicht nicht zugetraut. Er sah ja, wie alles zusammenbrach, auch das, was er in der DDR mit aufgebaut hatte. Und plötzlich sagte sein Sohn, so, ich versuche mal die Karre aus dem Dreck zu ziehen.

Sie sind als 19-Jähriger in die SED eingetreten, Sie haben aber auch Oppositionelle wie

Normalerweise ist das nicht so im Beruf: Du kannst einen Mörder verteidigen, magst ihn nicht sympathisch finden, aber deine Aufgabe ist es ihn zu verteidigen. Vor Robert Havemann hatte ich Respekt und Rudolf Bahro habe ich gemocht. Die DDR hat sich im Lauf der Jahrzehnte verrechtlicht. Nur wenn es um politische Machtfragen ging, dann war juristisch nichts zu machen. Das habe ich natürlich erkannt und meine Rolle gefunden als Vermittler zwischen diesen Bürgerrechtlern und der Parteiführung. Das Kunststück ist nicht, denen zu erklären, dass es schön wäre, den Hausarrest für Havemann aufzuheben, weil es im Interesse meines Mandanten ist. Das wussten sie. Das Kunststück bestand darin, denen zu erklären, warum es in ihrem Interesse liegt.

Sie sind vor einem guten Vierteljahrhundert vom Ossi zum Europäer geworden.

Ja.

War das schwierig?

Nein. Das Privileg meiner Familie war, dass wir in der geschlossenen Gesellschaft der DRR Besuch aus den USA, aus Südafrika und Großbritannien, aus Frankreich und aus Belgien hatten. Das gab es sonst gar nicht. Da wurde mir ein anderer Blick auf die Welt vermittelt.

Das ging ohne Nachfragen der Stasi?

Weiß ich nicht, ich war ja ein Kind, dann ein Jugendlicher. Einen sehr reichen Franzosen, der die KP unterstützte, habe ich gefragt, was er denn mache, wenn die sozialistische Revolution in Frankreich gesiegt habe. Das sei doch klar, sagte er, da gehe er sofort in die Schweiz und kämpfe weiter. Mit dieser Art von Humor wuchs ich auf. Das alles machte mir es leicht, Europäer zu werden.

Und was ist Europa heute?

Für mich ist dieser Kontinent spannend. Man muss die EU retten, obwohl sie in einem katastrophalen, desolaten Zustand ist, unsolidarisch, unsozial, undemokratisch, ökologisch nicht nachhaltig, intransparent, bürokratisch und nun will sie auch noch militärisch werden. Man muss eine EU schaffen, in der die Mehrheiten der Bevölkerungen aller Mitgliedsländer sagen, das ist in Ordnung, damit kann ich leben.

Und wie ist das zu schaffen?

Indem wir die Politik gänzlich ändern: die Austeritätspolitik gegen den Süden ist katastrophal, wir brauchen dort eine Aufbaupolitik. Der Regierungsföderalismus muss aufhören, es müssen die eigenen Parlamente und das europäische Parlament ernst genommen werden. Wir müssen das Subsidiaritätsprinzip anwenden, das heißt, in der Kommune entscheiden, was die Kommune entscheiden kann und in Europa das entscheiden, was europäisch entschieden werden muss. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das Europäische Parlament beschließt die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auszusetzen. Was sagt die Kanzlerin? Na ja, wir setzen die Verhandlungen fort, machen aber kein neues Kapitel auf. So geht es einfach nicht!

Sie fordern mehr Konsequenz?

Wir müssen konsequent die Rechte des Europäischen Parlaments stärken. Wir müssen die Politik und den Stil ändern. Ich habe jetzt lange mit Martin Schulz gesprochen, ich wollte ihn treffen, solange er noch Präsident des EU-Parlaments ist. Ich will die EU retten, weil die Jugend europäisch ist. Denen kann man doch nicht mehr den alten Nationalstaat mit Grenzbäumen zumuten. Ökonomisch hätten doch die alten Nationalstaaten im Verhältnis zu den USA und China nichts zu bestellen. Weltpolitisch hätten sie nichts zu bestellen. Vor allem gab es noch nie einen Krieg zwischen zwei Mitgliedsländern, die aber vorher die gesamte europäische Geschichte prägen. Ich weiß, ich bin eine widersprüchliche Figur, ich mache die EU erst fertig, die kriegt links und rechts nur Ohrfeigen und dann erkläre ich, warum man sie ändern und retten muss.

Werden wir denn weiter mit diesem Euro leben können, von dem wir profitieren?

Als der Euro eingeführt wurde, war ich der Einzige, der im Bundestag dagegen gesprochen hat. Das Problem ist nur, wenn wir jetzt rausgehen, wird auch das wieder eine Katastrophe. Es braucht Mindeststandards im sozialen Bereich, im Steuerbereich und in anderen. Früher gab es Schuldenerlasse, nun müssen wir das mit dem Süden machen, nicht nur für Griechenland, sondern für die gesamte Eurozone. Und in 60Jahren brauchen wir dann wohl wieder eine Schuldenkonferenz.

Täuscht es oder haben Sie eigentlich meistens mehr an Ihrer Partei gelitten als die an Ihnen?

Das ist doch immer so, man ärgert sich am meisten in der Familie und bei Freunden, wieso soll ich mich über die CDU ärgern? Letztlich, das muss ich einfach mal sagen, hat die Partei doch auch von mir nicht ganz unerheblichen Gewinn gehabt.

Bei Ihrer Partei gibt es immer mal eine gewisse Deckung, etwa in der Flüchtlingspolitik, bei den Positionen von Sahra Wagenknecht und Frauke Petry von der AfD. Bekümmert Sie das?

Ich will mich jetzt nicht mit Sahra Wagenknecht auseinandersetzen. Es gibt in meiner Partei eine ganz klare Linie: Wir bekämpfen nicht Flüchtlinge, sondern Fluchtursachen. Die Linie heißt, wir werden uns nicht an Obergrenzendebatten beteiligen. Was die Rechtspopulisten anbieten, ist wieder ein Mauerbau. Alle Mauerbauten in der Geschichte haben nichts gebracht außer einer Pause. Bauten wir eine solche Mauer um Deutschland oder Europa, hält die vielleicht zwei Jahre. Dann wird sie von Millionen gestürmt. Wir haben eine globalisierte Wirtschaft, die Menschen gehören zusammen, das Handy ist erfunden, nun wissen auch alle Afrikanerinnen und Afrikaner, wie wir in Europa leben.

Aber es gibt diese Ähnlichkeiten zwischen Argumenten der Linken und der AfD.

Nein, ich würde sie nicht als ähnlich bezeichnen. Aber es gibt dazu auch Auseinandersetzungen in meiner Partei.

Sie haben beim Abschied als Fraktionsvorsitzender aus dem Bundestag auch über die Verletzungen gesprochen, die Ihnen zugefügt wurden. Gewöhnt man sich in einem politischen Leben, das 1989 begann, daran?

An Wunden gewöhnt man sich nie. Die Jagd auf mich war natürlich besonders scharf, muss ich sagen. Ich glaube das lag daran, dass ich nicht ihrem Bild entsprach. Wäre ich der typische SED-Funktionär gewesen, hätten sie damit leichter umgehen können. Inzwischen genieße ich im Bundestag einen gewissen Respekt bis in die Union hinein. Aber das musste ich mir hart erarbeiten. Ich liebe Talkshows nicht, aber ich bin dahin gegangen, um das Bild meiner Partei und von mir zu korrigieren. Irgendwann haben die Leute gesagt, dass der kleine Kinder frisst, glauben sie nun doch nicht. In der Beliebtheitsskala bin ich von Minus 2,6 auf Plus 0,9 gestiegen, dafür muss man schon hart arbeiten. Und Verletzungen tun trotzdem immer wieder weh. Nur du darfst das nie zeigen, sonst werden sie gnadenlos.

Auch wenn Sie sich juristisch erfolgreich dagegen gewehrt haben, bleibt immer noch der Eindruck, der Gysi hatte was mit der Stasi gehabt. Wie erklären Sie sich die Hartnäckigkeit, mit der das Thema immer wieder hochkommt?

Es gibt den irrationalen Grund, dass ich ein Linker bin. Wäre ich in der CDU oder der SPD gewesen, dann wäre der Fall erledigt gewesen. Nicht so bei mir. Diese Leute haben außerdem keine Ahnung von der DDR: Ich habe mit dem ZK der SED (dem Zentralkomitee der herrschenden Partei in der DDR) gesprochen. Hätte ich gleichzeitig mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geredet, hätte das ZK die Gespräche mit mir beendet, denn sie wollten entscheiden, wen sie informieren. Natürlich hatte auch das MfS immer Informationen, aber eben nicht von mir.

Sie sind Präsident der Europäischen Linken – kann man denn in diesem Europa und diesem Deutschland noch links sein?

Es ist nicht leicht, eben weil der Staatssozialismus gescheitert ist und zu Recht gescheitert ist. Ich bezeichne mich ja als demokratischen und auch als libertären Linken. Wichtig ist mir die soziale Gerechtigkeit, ich halte diese extremen Wohlstandsunterschiede in Deutschland und weltweit für grob ungerecht. Ich bin sehr entschieden für Frieden und glaube, man kann die Probleme mit einem Krieg nicht lösen. Das christliche Gebot von der Feindesliebe, dass man nicht zurückhassen darf, das habe ich praktiziert. Ich habe Anfang der neunziger Jahre bewusst beschlossen, nicht zurückzuhassen. Aber das musst du dir immer wieder vornehmen.

Weil Sie das für Ihre Seelenhygiene brauchten?

Ja, ich brauchte es für mich. Ich fühlte mich dadurch wohler.

Sie fordern eine einfache Sprache. Warum fällt das vielen Politikern so schwer?

Die Juristerei hat eine Sprache entwickelt, die kein Mensch verstehen kann. Die politische Sprache hat sich verselbstständigt, kreist zu sehr um sich. Ich habe mal in Berlin eine Nacht mit Obdachlosen verbracht, dann musst du auch so sprechen, dass sie dich verstehen. Wenn man eine halbe Minute in der Tagesschau ist und die Verkäuferin versteht einen nicht, ist die halbe Minute verschenkt. Das Übersetzen ist wichtig. Und das ist an mir auch immer ein bisschen gemocht worden.

Redet die Politik genug mit den Menschen?

Zu wenig. Viele Politiker bekommen nicht mit, dass Trump unter anderem deshalb gewonnen hat, weil er nicht zum politischen Establishment gehört. Wenn das ein Motiv ist ihn zu wählen, dann müssen wir davon ausgehen, dass das in zwei Jahren auch so in Deutschland sein wird. Und wir bereiten uns darauf nicht vor. Anstatt darüber nachzudenken, uns zu öffnen für Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, verhalten wir uns geschlossen. Und wir brauchen einen sozialen Schub in Deutschland, wir haben den größten Niedriglohnsektor Europas.