Bahnindustrie
Gäubahn: ein Desaster für die Bahnindustrie
Baden-Württemberg / Lesedauer: 7 min

Vollmundig waren die Versprechen. Fahrgäste zwischen Stuttgart und Zürich sollten bequemer reisen: in neuen Zügen, schneller und auch direkt zum Flughafen Stuttgart. Aus den Ankündigungen der Politiker und diverser Bahnchefs wird zunächst nichts. Sie wollten vor allem den starken Wirtschaftsraum rund um Tuttlingen besser ans europäische Schienennetz mit dem neuen Tiefbahnhof Stuttgart 21 und an die Airports in Zürich und Stuttgart anbinden. Nun aber haben die neuen Züge, die ab Ende 2017 rollen sollen, gar keine Zulassung für die Schweiz. Die Gäubahn, auf der diese Züge fahren sollen, wird wohl auf lange Sicht nicht ausgebaut und könnte im neuen Bundesverkehrswegeplan nicht mehr im vordringlichen Bedarf aufgeführt werden. Auch der Direktanschluss an den Stuttgarter Flughafen kommt später.
In weiten Teilen eingleisig
Rückblende. Wie so oft sprechen die Verantwortlichen von „Quantensprüngen“, als Bahnchef Rüdiger Grube im Frühjahr 2013 ankündigt, von Dezember 2017 an Doppelstock-Intercity-Züge (IC2) im Stundentakt auf der Gäubahn einzusetzen. Vorausgegangen ist harsche Kritik: Politik und Wirtschaft in der Region Schwarzwald-Baar Heuberg monieren seit Langem, dass der Zugverkehr auf der Gäubahn zu langsam und zu unzuverlässig sei. Die Strecke ist in weiten Teilen nur eingleisig. Außerdem setzt die Bahn seit 2010 keine schnellen ICEs mehr für die Verbindung ein. Uralt-Waggons mit 40 Jahren alten Loks verkehren dort. Grube aber will liefern und bringt die Doppelstock-Intercity-Züge ins Spiel. Von einem neuen Konzept für die Strecke verspricht sich die Bahn kürzere Reisezeiten. Die Züge sollen ab Dezember 2017 stündlich an den Bahnhöfen in Richtung Schweiz abfahren: „Das ist eine Verdopplung des heutigen Verkehrsangebots. Dafür nehmen wir viel Geld in die Hand“, betont der Bahnchef.
Überwachungssystem fehlt
Für das neue Angebot will die Bahn neun fabrikneue Züge einsetzen: 2007/2008 hatte der Konzern beim Hersteller Bombardier insgesamt 44Garnituren bestellt. In Norddeutschland rollen die weiß-rot lackierten Züge bereits, in Süddeutschland sollen sie auf der Strecke zwischen Karlsruhe und Nürnberg verkehren. Auch zwischen Stuttgart und der Schweizer Metropole Zürich. Doch genau für diese Strecke auf der Schweizer Seite ab Singen sind Loks und Wagen nicht zugelassen. Ihnen fehlt das Zugbeeinflussungssystem ETCS, ein europäisch standardisiertes Überwachungssystem, das die sichere Fahrt der Züge gewährleistet. Ein Desaster für die Bahnindustrie, die jetzt nachbessern muss.
Für die Fahrgäste der Gäubahn, die nach Zürich reisen wollen, bedeutet der Zwangsstopp der fabrikneuen Züge in Singen ein schlechteres Angebot als die zwar alten, aber durchgehenden Züge heute leisten: Passagiere müssen ab Dezember 2017 in Singen am Bodensee umsteigen. Statt mehr Komfort und kürzerer Reisezeit sind Ärger, Verspätungen, Unbequemlichkeit programmiert. Das sei eine Übergangslösung, wiegelt ein Bahnsprecher ab. Wie lange diese dauere, wisse man nicht. Es würden Gespräche geführt.
Doch warum denkt weder bei der Bahn noch bei Bombardier in der Bauphase der Züge niemand an den Einbau des ETCS? Es herrscht kein Zeitdruck. Informationen fließen reichlich. Andreas Windlinger vom zuständigen Schweizer Bundesamt für Verkehr (BAV) sagt: „Das BAV hat Unternehmen und Branche bereits am 10. August 2011 darüber informiert, dass neue Fahrzeuge ab Mitte 2014 mit ETCS ausgerüstet sein müssen. Am 8. Mai 2014 fand die erste offizielle Zulassungsbesprechung mit dem Hersteller der lokbespannten Doppelstockzüge statt, welche für die Strecke Stuttgart – Singen – Schaffhausen – Zürich vorgesehen sind.“
Die Deutsche Bahn und Fahrzeug-bauer Bombardier schieben sich heute die Verantwortung gegenseitig zu. Die richtige Version der Schweizer Zulassung habe zum Zeitpunkt der Bestellung der Züge im Lastenheft gestanden, danach habe sich eine neue Version ergeben, beteuert ein Bahnsprecher schmallippig. Und ein Bombardier-Sprecher ergänzt: „Die Bestellung der IC-Doppelstockzüge für den grenzüberschreitenden Verkehr von Stuttgart nach Zürich erfolgte gemäß den zu diesem Zeitpunkt gültigen technischen Zugangsvoraussetzungen der Schweiz. Im Nachgang der Bestellung wurde in der Schweiz eine neue ETCS-Version eingeführt, was eine außerplanmäßige Anpassung der hochkomplexen Fahrzeugleittechnik und Zugsicherung erfordert. Zum Thema Nachrüstung laufen die Gespräche mit der DB.“
Weder die Bahn noch Bombardier können oder wollen auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“ erklären, warum die Anpassung der Software auf die Anforderungen der Schweiz bis zum geplanten Ersteinsatz der Züge Ende 2017 nicht zu schaffen ist. Warum sind sechs Jahre nach der Schweizer Ankündigung und dreieinhalb Jahre nach der Zulassungsbesprechung nicht Zeit genug? Keine Antwort.
Aus der Politik kommen Proteste: Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) sieht die Attraktivität des Konzepts stark gefährdet, „für dessen Einführung sich das Land mit Nachdruck eingesetzt hat. Wir appellieren an die DB, dafür zu sorgen, dass bis zum Start des neuen Fahrplankonzepts die technischen Probleme gelöst werden.“ Justizminister Guido Wolf (CDU), der aus Tuttlingen stammt und seit Jahren für den Ausbau der Gäubahn kämpft, ist enttäuscht: „Die Nachricht, dass die neuen IC-Züge in der Schweiz nicht fahren dürfen, macht mich sprachlos.“ Die fehlende Zulassung sei ein „Armutszeugnis für die DB AG und ein Riesenärgernis für alle Bahnkunden: So kann man auch die treuesten Bahnkunden vergraulen.“
In Deutschland tat sich nichts
Doch nicht nur die Züge kommen verspätet. Auch der Ausbau der Gäubahn verzögert sich, sodass die Reise von Stuttgart nach Zürich weiter drei Stunden statt der angestrebten gut zwei Stunden dauert. In einem Staatsvertrag hatten sich Deutschland und die Schweiz 1996 verpflichtet, die erforderlichen Investitionen zu schultern. Während die Eidgenossen 153 Millionen Franken für den Ausbau ihres Streckenanteils zwischen Schaffhausen und Zürich geleistet haben, tat sich in Deutschland nichts. Eine Studie veranschlagt die Kosten für den Ausbau mit einem zweiten Gleis an drei Stellen auf 135Millionen Euro, die restlichen Abschnitte sollen vorläufig eingleisig belassen werden. Jahrelang wurde diskutiert, die Kommunen an der Strecke streckten Planungskosten vor.
Wolf ist sehr enttäuscht
Bis jetzt der Paukenschlag kam: Im neuen Bundesverkehrswegeplan (BVWP) könnte der Ausbau auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. Minister Wolf: „Was jetzt vorliegt, ist ein Entwurf der Fachabteilung, der mich nicht zuletzt deshalb sehr enttäuscht, weil die bisherige Konzeption und deren Verankerung im alten BVWP in Frage gestellt wird. Auch alle bisher seitens des Bundes und der DB AG gemachten Zusagen erscheinen hierdurch in einem anderen Licht.“ Wolfs Parteifreund Volker Kauder, auch er Tuttlinger Abgeordneter und Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ist optimistisch: „Die Bahn steht zu ihrer Zusage.“
Über den Entwurf soll das Bundeskabinett noch vor der Sommerpause beraten. Kauder will mit Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt sprechen: „Ich bin da ganz zuversichtlich.“ Auch Verkehrsminister Hermann will Druck machen, dass die Gäubahn wieder in den vordringlichen Bedarf kommt, fürchtet die Blamage auf internationalem Parkett: „Schließlich hat sich Deutschland bereits 1996 gegenüber der Schweiz verpflichtet, für eine schnellere Schienenverbindung zwischen Stuttgart und Zürich zu sorgen. Das geht nur mit dem Ausbau der Gäubahn.“
Eine Unglückssträhne
Die Zeit drängt, auch im Hinblick aufs Wahljahr 2017. Im Herbst will der Bundestag entscheiden. Wolf hat bereits alle Abgeordneten entlang der Gäubahn informiert: „Wir werden rechtzeitig vor dem Beschluss im Bundestag mit unseren Abgeordneten nochmals ein Gespräch führen, wie wir den Gäubahn-Ausbau wieder in den vordringlichen Bedarf bekommen.“
Angesichts der Unglückssträhne gerät die Entscheidung der Bahn, die Anbindung der Gäubahn an den Flughafen Stuttgart zu verschieben, in Vergessenheit. Der Anschluss der Strecke von Singen nach Norden soll erst 2022 oder 2023 und damit ein bis zwei Jahre später in Betrieb gehen als das Gesamtprojekt Stuttgart 21 , hatte der Konzern Anfang 2015 mitgeteilt. Zur Begründung hieß es, das 6,5 Milliarden Euro teure Vorhaben Stuttgart 21 müsse als Ganzes so früh wie möglich in Betrieb genommen werden. Die Gäubahn soll laut S-21-Finanzierungsvertrag direkt an den Flughafen angebunden werden. Flughafen-Geschäftsführer Walter Schoefer hatte seinerzeit gesagt, eine Verzögerung sei nicht gut für die Fluggäste, die mit der Gäubahn anreisen wollten. Die Antwort der Bahn steht bis heute aus.