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Eskalation

Eskalation hinter Gittern

Baden-Württemberg / Lesedauer: 5 min

In Adelsheim wollte sich der Justizminister über den Strafvollzug informieren, doch dann hat eine Schlägerei das Programm diktiert
Veröffentlicht:27.08.2014, 18:09

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Warum genau die Sache aus den Fugen geraten ist, weiß Maida-Gerhild Dietlein auch eine Woche nach dem „Ereignis“ nicht. Die kommissarische Leiterin der Justizvollzugsanstalt Adelsheim steht an diesem Mittwoch sichtlich mitgenommen im Verwaltungstrakt des Jugendgefängnisses und sucht Antworten. Eine Woche zuvor war eine Massenschlägerei auf dem weitläufigen Hofgelände eskaliert, Gefangene griffen Vollzugsbeamte an. Sechs Beamte wurden verletzt – es ist der erste Gewaltausbruch dieser Art in der 40-jährigen Geschichte des Jugendgefängnisses 40 Kilometer nördlich von Heilbronn. „Wir laufen noch nicht wieder im Normalbetrieb. Wie es konkret weitergeht, ist noch nicht entschieden“, sagt Dietlein. Seit drei Jahrzehnten ist sie hier, so etwas hat sie noch nicht erlebt.

Am andern Ende des Tisches sitzt Baden-Württembergs Justizminister Rainer Stickelberger . Der 63-Jährige SPD-Politiker hat einen Tross Mitarbeiter und Journalisten mitgebracht. Es ist eine lange geplante Fahrt, auf der man eigentlich über das neue Gesetz zum Jugendarrest und Chancen des Strafvollzugs informieren wollte. Doch dann kam das „Ereignis“, und nun sitzen viele Menschen mit vielen Fragen am Tisch. Stickelberger sagt, dass man erst einmal die Vorschläge der JVA abwarten wolle.

Es ist zu diesem Zeitpunkt nicht seine größte Sorge: Wenige Stunden später wird sein Ministerium mitteilen, dass am 9. August ein 33-Jähriger aus Burkina Faso im Gefängnis Bruchsal in Einzelhaft gestorben ist. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Sie schließt nicht aus, dass der als aggressiv geltende Mann in seiner Zelle – quasi unter den Augen der Mitarbeiter – verhungert ist. Und so vermischen sich an diesem Tag zwei Ereignisse, die nicht recht zueinander passen wollen, zu einer Frage: Wie ist so was im Strafvollzug möglich? Und in beiden Fällen gibt es bislang keine Antworten. In Bruchsal ermitteln Staatsanwälte, in Adelsheim sucht man die Rückkehr zur Normalität.

Der Auslöser ist unbekannt

Das Adelsheimer „Ereignis“ beginnt, als eine „größere multinationale Gruppe“ unter Führung einiger Kurden beim Hofgang einem kleineren Trupp Russlanddeutscher den Weg versperrt. „Den konkreten Anlass kennen wir nicht“, sagt Dietlein, die das Ganze vom Fenster des Verwaltungstrakts mit ansieht. Vielleicht geht es um Drogen, vielleicht schlicht um Macht. Beamte gehen dazwischen, um die Gruppen auf dem weitläufigen Hofgelände zu trennen. Dann – „wie auf ein geheimes Zeichen“ – attackieren die Mitglieder der „multinationalen Gruppe“ die unbewaffneten Justizmitarbeiter. Uniformierte gehen zu Boden, die Angreifer schlagen und treten trotzdem weiter zu – vornehmlich gegen den Kopf.

Sechs Beamte werden verletzt, einer verliert das Bewusstsein, muss tagelang ins Krankenhaus. Fünf sind auch eine Woche darauf noch krankgeschrieben. Doch es geht nicht nur um die körperlichen Folgen. „Große Teile unseres Personals sind psychisch sehr belastet“, sagt Dietlein. Neun der etwa 200 Mitarbeiter sind deswegen derzeit nicht im Dienst.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch in Adelsheim. Die Vorwürfe: Körperverletzung, vielleicht sogar versuchter Totschlag. 23 vermutete Rädelsführer wurden in andere Gefängnisse des Landes verlegt, um wieder Ruhe in die Wohnblocks zu bringen. Ob das klappt und die verbliebenen 326 Gefangenen zur Ruhe kommen, ist offen. Es gibt jetzt viele offene Rechnungen, verletzte Ehrgefühle. Dietlein achtet an diesem Tag akribisch darauf, dass die Besucher den Häftlingen nicht zu nahe kommen, auch nicht in Wurfweite der vergitterten Zellenfenster, aus denen manche ihre Wut auf die Welt herausschreien.

2012 erregte eine Studie des Kriminologischen Instituts Niedersachsen bundesweit Aufsehen. Der Befund nach Befragung zahlreicher Gefangener: Jeder vierte wird binnen eines Monats Opfer körperlicher Gewalt. Ausgerechnet dort, wo Justizhandeln das tägliche Leben bestimmt, gibt es riesige rechtsfreie Räume.

Und ausgerechnet bei den Jugendlichen ist die Lage noch schlimmer, hier traf die Gewalt demnach jeden zweiten. Dabei hat das Jugendstrafrecht einen ausdrücklichen Erziehungsauftrag. Die jungen (in der Regel) Männer sollen begreifen, dass sich Kriminalität nicht lohnt. Und Perspektiven aufgezeigt bekommen.

Bei Erfolg einen Meter größer

Wie in der Schreinerei der JVA Adelsheim. Meister Andre Winkler steht an einer CNC-Fräse und erzählt stolz von „meinen Jungs“. Viele hätten in der Werkstatt erstmals in ihrem Leben Erfolgserlebnisse: Jeder Zweite kommt aus einer zerbrochenen Familie, jeder Dritte hier hat keinen Schulabschluss, nur vier Prozent überhaupt eine Berufsausbildung. Drogenprobleme und Schulden sind normal, Dietlein spricht von „sozialer Verwahrlosung“. Manche müssten im Gefängnis erst lernen, dass man andere statt mit einer Beleidigung auch mit „Guten Morgen“ begrüßen kann.

Wenn dann das erste Werkstück fertig werde, „werden die einen Meter größer“, sagt Winkler. Zu Anfang bauen die Neulinge zusammen mit einem erfahreneren Insassen Indoor-Sandkästen für Therapeuten. Die JVA verkauft davon Hunderte im Jahr. Klar würde er draußen als Meister mehr verdienen – aber warum? „Es geht mir unwahrscheinlich gut. Ich habe Spaß mit den Jungs“. Und das mit dem „Ereignis“? Winkler winkt ab: „Das kriegen wir wieder hin“, sagt er.

In Adelsheim gibt es Ausbildungswerkstätten, eine Schule, Kochkurse, einen Chor, Häkel-, Gitarren-, Garten- und Umweltgruppen. Trotzdem: „Von Kuschelpädagogik, wie dem Jugendstrafvollzug manchmal vorgeworfen wird, kann überhaupt keine Rede sein“, betont Justizminister Stickelberger.

Die Zellen sind klein und trist: Bett, Regal, Tisch, Waschbecken, Klo. Die Wohnblöcke aus Beton sind von 1974. Heute würde man ganz anders bauen: Wohngruppen statt Zellengänge. Doch dazu fehlt nicht nur das Geld. Eine Gefängnissanierung im laufenden Betrieb ist immer schwierig.

Doch nun soll sich etwas tun: Wahrscheinlich wird der Hof in kleinere Parzellen unterteilt und durch Zäune abgetrennt. Dann wären aggressive Gruppen kleiner und leichter zu kontrollieren. Die Vollzugsmitarbeiter bewaffnen will Gefängnischefin Dietlein nicht: „Dann rüstet auch die Gegenseite auf“.